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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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einem Ganzen zu gestalten. Noch ungleich mehr Einfluß aber haben die Inten¬
tionen des Componisten natürlich auf die Formation seiner Kunstwerke im Gro¬
ßen. Das schlagendste Beispiel, zu welchen Monstrositäten eines ein denkender
Mann gelangen kann, wenn er von einer Kunst erzwingen will, was ihrer Natur
zuwider ist, und der sicherste Beweis, daß ihr Wesen ihm verschlossen blieb, ist
die dramatische Symphonie Romeo und Julie. Der Versuch, deu Eindruck
eines Dramas musikalisch wiederzugeben, ist nicht nen, auch keineswegs schlechthin
verwerflich, wenn die Musik sich innerhalb ihrer Grenzen hält und sich begnügt,
die allgemeine poetische Stimmung auszudrücken, zu welcher das Werk des Dichters
die Anregung bot. Indessen hat es nicht an Componisten gefehlt, welche, der
eigenen Kraft mißtrauend, den poetischen Inhalt für ihre Instrumentalmusik gera¬
dezu vom Dichter glaubten borgen zu können, indem sie ihn Schritt für Schritt
begleiteten. In ähnlicher Weise hat Serlioz Shakespeares Romeo und Julie so
in Musik umgesetzt, daß er an den Stellen der Handlung, welche für'eine musi¬
kalische Darstellung Veranlassung zu bieten schienen, Halt macht für einen sym¬
phonischen Satz. Daß bei einer solchen Anlage kein Tonstück entstehen kann,
welches die Summe des poetischen Inhalts jenes Dramas musikalisch reprodu-
cirt, leuchtet ein, denn Hauptmomente der dramatischen Gestaltung sind musika¬
lisch theils absolut nicht wiederzugeben, theils werden sie durch das Festhalten in
der ausgeführten musikalischen Behandlung ihrer wahren Bedeutung entkleidet,
während dagegen Nebendinge durch den zufälligen Umstand, daß sie für Musik
qualificirt sind, zu Hauptdarstclluua.er erhoben werden, wie z. B. gleich anfangs
die Ballscene blos der Tanzmusik zu Liebe eine Ausführlichkeit erhalten hat,
welche ihr im Zusammenhange des Ganzen nicht zukommt. Ebenso ist die Dar¬
stellung der Fee Mad in einem langen Scherzo, die an sich nicht zu mißbilligen
wäre, als integrirender Theil von Romeo und Julie so ungebührlich ausgeweidet,
daß sie gar nicht mehr in den Nahmen paßt. Das Ganze bildet eine Reihe von
musikalisch ausgeführten Situationen der Tragödie, aber nicht mit innerer Noth¬
wendigkeit aus dem Keim derselben heraus gegliedert, sondern nach unwesentlichen
Merkmalen herausgegriffen, verschoben und verrenkt, wie wenn ein Declamator
in einem Satze, den er nicht versteht, die Wörter falsch verbindet und betont.
Noch nicht zufrieden mit all dieser Musik und besorgt um Deutlichkeit und
Verständniß, hat Berlioz deu Justrumeutalsätzen anch noch Gescmgpartieen hinzu¬
gefügt, in denen nun zum Theil wenigstens das gesungen wird, was man ohne
Worte gar nicht verstehen könnte. Ein klarer Zusammenhang und. eine fortschrei¬
tende Entwickelung ist durch diese Vermischung heterogener Elemente, von denen
keines an seinem Platze ist, natürlich doch nicht erreicht; auch tritt hier wiederum
derselbe Uebelstand hervor, daß anch die Gesangspartieeu meistens nicht der poe¬
tischen Bedeutung der Situation, sondern dem Zufall eines musikalisch darstell¬
baren Motivs ihre Stelle verdanken und das Mißverhältniß der einzelnen Theile


einem Ganzen zu gestalten. Noch ungleich mehr Einfluß aber haben die Inten¬
tionen des Componisten natürlich auf die Formation seiner Kunstwerke im Gro¬
ßen. Das schlagendste Beispiel, zu welchen Monstrositäten eines ein denkender
Mann gelangen kann, wenn er von einer Kunst erzwingen will, was ihrer Natur
zuwider ist, und der sicherste Beweis, daß ihr Wesen ihm verschlossen blieb, ist
die dramatische Symphonie Romeo und Julie. Der Versuch, deu Eindruck
eines Dramas musikalisch wiederzugeben, ist nicht nen, auch keineswegs schlechthin
verwerflich, wenn die Musik sich innerhalb ihrer Grenzen hält und sich begnügt,
die allgemeine poetische Stimmung auszudrücken, zu welcher das Werk des Dichters
die Anregung bot. Indessen hat es nicht an Componisten gefehlt, welche, der
eigenen Kraft mißtrauend, den poetischen Inhalt für ihre Instrumentalmusik gera¬
dezu vom Dichter glaubten borgen zu können, indem sie ihn Schritt für Schritt
begleiteten. In ähnlicher Weise hat Serlioz Shakespeares Romeo und Julie so
in Musik umgesetzt, daß er an den Stellen der Handlung, welche für'eine musi¬
kalische Darstellung Veranlassung zu bieten schienen, Halt macht für einen sym¬
phonischen Satz. Daß bei einer solchen Anlage kein Tonstück entstehen kann,
welches die Summe des poetischen Inhalts jenes Dramas musikalisch reprodu-
cirt, leuchtet ein, denn Hauptmomente der dramatischen Gestaltung sind musika¬
lisch theils absolut nicht wiederzugeben, theils werden sie durch das Festhalten in
der ausgeführten musikalischen Behandlung ihrer wahren Bedeutung entkleidet,
während dagegen Nebendinge durch den zufälligen Umstand, daß sie für Musik
qualificirt sind, zu Hauptdarstclluua.er erhoben werden, wie z. B. gleich anfangs
die Ballscene blos der Tanzmusik zu Liebe eine Ausführlichkeit erhalten hat,
welche ihr im Zusammenhange des Ganzen nicht zukommt. Ebenso ist die Dar¬
stellung der Fee Mad in einem langen Scherzo, die an sich nicht zu mißbilligen
wäre, als integrirender Theil von Romeo und Julie so ungebührlich ausgeweidet,
daß sie gar nicht mehr in den Nahmen paßt. Das Ganze bildet eine Reihe von
musikalisch ausgeführten Situationen der Tragödie, aber nicht mit innerer Noth¬
wendigkeit aus dem Keim derselben heraus gegliedert, sondern nach unwesentlichen
Merkmalen herausgegriffen, verschoben und verrenkt, wie wenn ein Declamator
in einem Satze, den er nicht versteht, die Wörter falsch verbindet und betont.
Noch nicht zufrieden mit all dieser Musik und besorgt um Deutlichkeit und
Verständniß, hat Berlioz deu Justrumeutalsätzen anch noch Gescmgpartieen hinzu¬
gefügt, in denen nun zum Theil wenigstens das gesungen wird, was man ohne
Worte gar nicht verstehen könnte. Ein klarer Zusammenhang und. eine fortschrei¬
tende Entwickelung ist durch diese Vermischung heterogener Elemente, von denen
keines an seinem Platze ist, natürlich doch nicht erreicht; auch tritt hier wiederum
derselbe Uebelstand hervor, daß anch die Gesangspartieeu meistens nicht der poe¬
tischen Bedeutung der Situation, sondern dem Zufall eines musikalisch darstell¬
baren Motivs ihre Stelle verdanken und das Mißverhältniß der einzelnen Theile


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[0493] einem Ganzen zu gestalten. Noch ungleich mehr Einfluß aber haben die Inten¬ tionen des Componisten natürlich auf die Formation seiner Kunstwerke im Gro¬ ßen. Das schlagendste Beispiel, zu welchen Monstrositäten eines ein denkender Mann gelangen kann, wenn er von einer Kunst erzwingen will, was ihrer Natur zuwider ist, und der sicherste Beweis, daß ihr Wesen ihm verschlossen blieb, ist die dramatische Symphonie Romeo und Julie. Der Versuch, deu Eindruck eines Dramas musikalisch wiederzugeben, ist nicht nen, auch keineswegs schlechthin verwerflich, wenn die Musik sich innerhalb ihrer Grenzen hält und sich begnügt, die allgemeine poetische Stimmung auszudrücken, zu welcher das Werk des Dichters die Anregung bot. Indessen hat es nicht an Componisten gefehlt, welche, der eigenen Kraft mißtrauend, den poetischen Inhalt für ihre Instrumentalmusik gera¬ dezu vom Dichter glaubten borgen zu können, indem sie ihn Schritt für Schritt begleiteten. In ähnlicher Weise hat Serlioz Shakespeares Romeo und Julie so in Musik umgesetzt, daß er an den Stellen der Handlung, welche für'eine musi¬ kalische Darstellung Veranlassung zu bieten schienen, Halt macht für einen sym¬ phonischen Satz. Daß bei einer solchen Anlage kein Tonstück entstehen kann, welches die Summe des poetischen Inhalts jenes Dramas musikalisch reprodu- cirt, leuchtet ein, denn Hauptmomente der dramatischen Gestaltung sind musika¬ lisch theils absolut nicht wiederzugeben, theils werden sie durch das Festhalten in der ausgeführten musikalischen Behandlung ihrer wahren Bedeutung entkleidet, während dagegen Nebendinge durch den zufälligen Umstand, daß sie für Musik qualificirt sind, zu Hauptdarstclluua.er erhoben werden, wie z. B. gleich anfangs die Ballscene blos der Tanzmusik zu Liebe eine Ausführlichkeit erhalten hat, welche ihr im Zusammenhange des Ganzen nicht zukommt. Ebenso ist die Dar¬ stellung der Fee Mad in einem langen Scherzo, die an sich nicht zu mißbilligen wäre, als integrirender Theil von Romeo und Julie so ungebührlich ausgeweidet, daß sie gar nicht mehr in den Nahmen paßt. Das Ganze bildet eine Reihe von musikalisch ausgeführten Situationen der Tragödie, aber nicht mit innerer Noth¬ wendigkeit aus dem Keim derselben heraus gegliedert, sondern nach unwesentlichen Merkmalen herausgegriffen, verschoben und verrenkt, wie wenn ein Declamator in einem Satze, den er nicht versteht, die Wörter falsch verbindet und betont. Noch nicht zufrieden mit all dieser Musik und besorgt um Deutlichkeit und Verständniß, hat Berlioz deu Justrumeutalsätzen anch noch Gescmgpartieen hinzu¬ gefügt, in denen nun zum Theil wenigstens das gesungen wird, was man ohne Worte gar nicht verstehen könnte. Ein klarer Zusammenhang und. eine fortschrei¬ tende Entwickelung ist durch diese Vermischung heterogener Elemente, von denen keines an seinem Platze ist, natürlich doch nicht erreicht; auch tritt hier wiederum derselbe Uebelstand hervor, daß anch die Gesangspartieeu meistens nicht der poe¬ tischen Bedeutung der Situation, sondern dem Zufall eines musikalisch darstell¬ baren Motivs ihre Stelle verdanken und das Mißverhältniß der einzelnen Theile

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/493>, abgerufen am 06.02.2025.