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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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nur in natürlicher Kraft, diese zu eigenem Verderben, während sich die christliche
Welt, Wissenschaft und Kunst daran nachher gebildet, und was sie ihrer Natur
nach davon sich aneignen konnte, sich zu eigner Verherrlichung angeeignet, aber
auch nie ungestraft die Grenzen überschritte" hat, welche bei dieser Aneignung
stattfinden müssen, wenn man nicht die höhere Herrlichkeit christlichen Wesens da¬
hin geben will." -- ES versteht sich von selbst, daß die römische Geschichte einen
ganz ähnliche" Ausgang nimmt, umsomehr, da Leo sich weit mehr der Ansicht
Hegels von der künstlichen mechanischen Entstehung dieses Staates anschließt, als
der Auffassung Niebuhrs, welcher auch diesem Staatswesen eine sittlich - volks-
thümliche Basis gibt. Uebrigens sin^d anch hier einzelne Einfälle . über¬
raschend "ut glänzend, aber bei alledem wird doch eine sehr unklare Stimmung
dadurch hervorgebracht; denn bei dem fortwährenden Gedanken an eine Vorse¬
hung, die alles zum Besten kehrt, muß man sich fragen, warum es Gott eigent¬
lich zugelassen habe, daß eine so umfangreiche und mächtige Culturbewegung voll¬
ständig in falsche Bahnen einlenkte Und so für den heiligen Zweck der Geschichte
nutzlos vorüberging, da er doch ebensogut mit seiner Offenbarung anch schon frü¬
her hätte eingreifen können. Ein naiv-christlicher. Chronist würde solche Seiten-
gedankeu nicht aufkommen lassen, aber der reflectirte, auf die moderne Philosophie
bezogene Standpunkt Leos gibt beständigen Zweifeln und Erörterungen Raum.
Man merkt es ihm an, daß ihm das suprauaturalistische Motiv uicht natürlich und
nicht geläufig ist, daß er jedesmal einen Anlauf nehmen muß, um sich dazu zu
erheben. Am meisten merkt man dies bei dem Schlüsse der Darstellung vom
Volke Gottes heraus; schon durch die blumenreiche, gezierte Diction erweist sich
dieses ganze Capitel als gemacht. Er redet sich selbst in eine gebildete Rührung
hinein und wird erbaulich, bis er endlich mit einer thränenvollen Predigt schließt.
In diesem Zustande der Erbaulichkeit hört alle Kritik ans; er verschließt gewaltsam
die Augen-, und seine kritische Auffassung der Genesis sieht sast so aus, als hätte
sie ein Schulknabe gemacht.

Daß er im.Gegensatz gegen die bis dahin geläufige Eintheilung der Cnltnr-
perioden nach materiellen Gesichtspunkten überall das religiöse Motiv hervor¬
gehoben hat, ist ein unzweifelhafter Fortschritt, und war bereits durch Hegel an¬
gebahnt; aber bei seinem reflectirten Supranaturalismus wird man nie darüber
klar, wieviel von der Religion das Werk des menschlichen Gemüths und der
Natur der Dinge sei, und wieviel der Offenbarung angehöre. Zuweilen sehen
die Erklärungen über das Wesen der Religion fast so aus wie schlechte Wort¬
spiele. Im Einverständniß mit den Naturphilosophen, mit denen er dnrch das
Medium der Romantik in Verbindung stand/ nimmt er eine allmälige Verschlech¬
terung und Verwilderung der Religionen an, und es scheint wenigstens vielfach,
als ob alle individuellen Religionsformen einen göttlichen Ursprung haben, aber
er bleibt keineswegs darin consequent, und wir sind'nicht selten genöthigt, Beelze-


nur in natürlicher Kraft, diese zu eigenem Verderben, während sich die christliche
Welt, Wissenschaft und Kunst daran nachher gebildet, und was sie ihrer Natur
nach davon sich aneignen konnte, sich zu eigner Verherrlichung angeeignet, aber
auch nie ungestraft die Grenzen überschritte» hat, welche bei dieser Aneignung
stattfinden müssen, wenn man nicht die höhere Herrlichkeit christlichen Wesens da¬
hin geben will." — ES versteht sich von selbst, daß die römische Geschichte einen
ganz ähnliche» Ausgang nimmt, umsomehr, da Leo sich weit mehr der Ansicht
Hegels von der künstlichen mechanischen Entstehung dieses Staates anschließt, als
der Auffassung Niebuhrs, welcher auch diesem Staatswesen eine sittlich - volks-
thümliche Basis gibt. Uebrigens sin^d anch hier einzelne Einfälle . über¬
raschend »ut glänzend, aber bei alledem wird doch eine sehr unklare Stimmung
dadurch hervorgebracht; denn bei dem fortwährenden Gedanken an eine Vorse¬
hung, die alles zum Besten kehrt, muß man sich fragen, warum es Gott eigent¬
lich zugelassen habe, daß eine so umfangreiche und mächtige Culturbewegung voll¬
ständig in falsche Bahnen einlenkte Und so für den heiligen Zweck der Geschichte
nutzlos vorüberging, da er doch ebensogut mit seiner Offenbarung anch schon frü¬
her hätte eingreifen können. Ein naiv-christlicher. Chronist würde solche Seiten-
gedankeu nicht aufkommen lassen, aber der reflectirte, auf die moderne Philosophie
bezogene Standpunkt Leos gibt beständigen Zweifeln und Erörterungen Raum.
Man merkt es ihm an, daß ihm das suprauaturalistische Motiv uicht natürlich und
nicht geläufig ist, daß er jedesmal einen Anlauf nehmen muß, um sich dazu zu
erheben. Am meisten merkt man dies bei dem Schlüsse der Darstellung vom
Volke Gottes heraus; schon durch die blumenreiche, gezierte Diction erweist sich
dieses ganze Capitel als gemacht. Er redet sich selbst in eine gebildete Rührung
hinein und wird erbaulich, bis er endlich mit einer thränenvollen Predigt schließt.
In diesem Zustande der Erbaulichkeit hört alle Kritik ans; er verschließt gewaltsam
die Augen-, und seine kritische Auffassung der Genesis sieht sast so aus, als hätte
sie ein Schulknabe gemacht.

Daß er im.Gegensatz gegen die bis dahin geläufige Eintheilung der Cnltnr-
perioden nach materiellen Gesichtspunkten überall das religiöse Motiv hervor¬
gehoben hat, ist ein unzweifelhafter Fortschritt, und war bereits durch Hegel an¬
gebahnt; aber bei seinem reflectirten Supranaturalismus wird man nie darüber
klar, wieviel von der Religion das Werk des menschlichen Gemüths und der
Natur der Dinge sei, und wieviel der Offenbarung angehöre. Zuweilen sehen
die Erklärungen über das Wesen der Religion fast so aus wie schlechte Wort¬
spiele. Im Einverständniß mit den Naturphilosophen, mit denen er dnrch das
Medium der Romantik in Verbindung stand/ nimmt er eine allmälige Verschlech¬
terung und Verwilderung der Religionen an, und es scheint wenigstens vielfach,
als ob alle individuellen Religionsformen einen göttlichen Ursprung haben, aber
er bleibt keineswegs darin consequent, und wir sind'nicht selten genöthigt, Beelze-


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[0419] nur in natürlicher Kraft, diese zu eigenem Verderben, während sich die christliche Welt, Wissenschaft und Kunst daran nachher gebildet, und was sie ihrer Natur nach davon sich aneignen konnte, sich zu eigner Verherrlichung angeeignet, aber auch nie ungestraft die Grenzen überschritte» hat, welche bei dieser Aneignung stattfinden müssen, wenn man nicht die höhere Herrlichkeit christlichen Wesens da¬ hin geben will." — ES versteht sich von selbst, daß die römische Geschichte einen ganz ähnliche» Ausgang nimmt, umsomehr, da Leo sich weit mehr der Ansicht Hegels von der künstlichen mechanischen Entstehung dieses Staates anschließt, als der Auffassung Niebuhrs, welcher auch diesem Staatswesen eine sittlich - volks- thümliche Basis gibt. Uebrigens sin^d anch hier einzelne Einfälle . über¬ raschend »ut glänzend, aber bei alledem wird doch eine sehr unklare Stimmung dadurch hervorgebracht; denn bei dem fortwährenden Gedanken an eine Vorse¬ hung, die alles zum Besten kehrt, muß man sich fragen, warum es Gott eigent¬ lich zugelassen habe, daß eine so umfangreiche und mächtige Culturbewegung voll¬ ständig in falsche Bahnen einlenkte Und so für den heiligen Zweck der Geschichte nutzlos vorüberging, da er doch ebensogut mit seiner Offenbarung anch schon frü¬ her hätte eingreifen können. Ein naiv-christlicher. Chronist würde solche Seiten- gedankeu nicht aufkommen lassen, aber der reflectirte, auf die moderne Philosophie bezogene Standpunkt Leos gibt beständigen Zweifeln und Erörterungen Raum. Man merkt es ihm an, daß ihm das suprauaturalistische Motiv uicht natürlich und nicht geläufig ist, daß er jedesmal einen Anlauf nehmen muß, um sich dazu zu erheben. Am meisten merkt man dies bei dem Schlüsse der Darstellung vom Volke Gottes heraus; schon durch die blumenreiche, gezierte Diction erweist sich dieses ganze Capitel als gemacht. Er redet sich selbst in eine gebildete Rührung hinein und wird erbaulich, bis er endlich mit einer thränenvollen Predigt schließt. In diesem Zustande der Erbaulichkeit hört alle Kritik ans; er verschließt gewaltsam die Augen-, und seine kritische Auffassung der Genesis sieht sast so aus, als hätte sie ein Schulknabe gemacht. Daß er im.Gegensatz gegen die bis dahin geläufige Eintheilung der Cnltnr- perioden nach materiellen Gesichtspunkten überall das religiöse Motiv hervor¬ gehoben hat, ist ein unzweifelhafter Fortschritt, und war bereits durch Hegel an¬ gebahnt; aber bei seinem reflectirten Supranaturalismus wird man nie darüber klar, wieviel von der Religion das Werk des menschlichen Gemüths und der Natur der Dinge sei, und wieviel der Offenbarung angehöre. Zuweilen sehen die Erklärungen über das Wesen der Religion fast so aus wie schlechte Wort¬ spiele. Im Einverständniß mit den Naturphilosophen, mit denen er dnrch das Medium der Romantik in Verbindung stand/ nimmt er eine allmälige Verschlech¬ terung und Verwilderung der Religionen an, und es scheint wenigstens vielfach, als ob alle individuellen Religionsformen einen göttlichen Ursprung haben, aber er bleibt keineswegs darin consequent, und wir sind'nicht selten genöthigt, Beelze-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/419>, abgerufen am 06.02.2025.