Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.sein Geist ist viel zu unruhig, um ein ausgedehntes Material vollständig zu sein Geist ist viel zu unruhig, um ein ausgedehntes Material vollständig zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97119"/> <p xml:id="ID_1253" prev="#ID_1252" next="#ID_1254"> sein Geist ist viel zu unruhig, um ein ausgedehntes Material vollständig zu<lb/> bezwingen; er geht vielmehr darauf aus, durch glänzende Schlaglichter und durch<lb/> weit ausgedehnte Perspectiven zu überraschen. Bei der niederländischen Geschichte<lb/> kam ihm der verhältnißmäßig beschränkte Umfang des Gegenstandes zu statten. Schon<lb/> die italienische Geschichte ist sehr ungleichmäßig ausgearbeitet. Die Auseinander¬<lb/> setzung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse des altewJtalieus seit der Herrschaft<lb/> der Longobarden ist vortrefflich, ebenso, was in den nächstfolgenden Bänden<lb/> über die allmälige Entwickelung der Municipalverfassung und der Dyuasteuhcrrschaft<lb/> unter den deutschen Kaisern gesagt ist. Ueber diesen Gegenstand hatte Leo schon<lb/> früher eigene Studien gemacht und wie alles, was man mit Vorliebe treibt, hat<lb/> sich auch diese Geschichte ihm zu einem klaren Bilde vergegenwärtigt. Ein günstiger<lb/> Umstand ist noch, daß hier die verschiedenen Sympathien des Geschichtschreibers,<lb/> Kaiserthum, Kirche, organisches Städtewesen, miteinander in Conflict gerathen<lb/> und eben darum eine objective Darstellung möglich machen, weil ein Enthusiasmus<lb/> den andern einschränkt und das Gefühl verhindert, jemals ins Maßlose über-<lb/> zuschweifen. Allein schon in dieser Periode führt es ihn zuweilen in Verirrungen,<lb/> daß er geistreichen Einfällen keinen Widerstand zu leisten weiß. Er ist seiner<lb/> eigenen Phantasie gegenüber stets kritiklos. So kommt er bei der Geschichte<lb/> Venedigs auf den artigen Einfall, diesen seltsamen Sraat mit einem Schiffe zu<lb/> vergleichen; die Localität paßt vortrefflich nud auch in den RechtSinstitntivnen lassen<lb/> sich, wenn man es nicht gar zu genau nehmen will, überraschende Vergleichungs-<lb/> punkte auffinden. Aber nnn wird dieser Einfall zu Tode gehetzt, und die ganze<lb/> Geschichte Venedigs darauf bezöge?,. Für ein wissenschaftliches Werk ist es<lb/> jedenfalls eine sonderbare Wendung, auf ein bloßes Bild, das, so glänzend es<lb/> sein mag, doch immer »ur halbe Wahrheit enthält, eine historische Auseinander¬<lb/> setzung zu begründe,,, Leo ist zuweilen glänzend im Charakrerisiren, aber für<lb/> die Erzählung, die bei einem Geschichtwerke doch immer die Hauptsache ist, hat<lb/> er eigentlich kein Talent, weil er zu wenig Ruhe und Andacht für die Thatsachen<lb/> mitbringt. — Auf ein anderes Bild müssen wir etwas genauer eingehen/ weil es<lb/> charakteristisch für sein ganzes System ist. Wenn wir vorher sagten, daß die<lb/> verschiedenen Sympathien sich einander die Wage halten, so müssen wir doch<lb/> hinzusetzen, daß der Grundzug des Gemäldes antighibclliiusch ist. Als Princip<lb/> des Ghibellinenthnms stellt Leo die Selbstgerechtigkeit dar und analysirt sie bei<lb/> einem der Führer der Ghibellinen, bei Ezzelin von Romano. Dieser war von<lb/> Natur ein kräftiger, tüchtiger und wohlgesinnter Mann, von starkem, unerschütter¬<lb/> lichem Rechtsgefühl, der ganz zu einem Wohlthäter seines Volkes bestimmt Den,<lb/> der aber, weil er den Inhalt seines Rechtsgefühls gewaltsam durchführen wollte,<lb/> ohne sich an die ihm widerstrebenden sittlichen und gesellschaftlichen Voraus¬<lb/> setzungen seiner Zeit zu kehren, zu einem Despoten wurde und sich zu den<lb/> willkürlichsten Ungerechtigkeiten, zu deu abscheulichsten Grausamkeiten verführen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0414]
sein Geist ist viel zu unruhig, um ein ausgedehntes Material vollständig zu
bezwingen; er geht vielmehr darauf aus, durch glänzende Schlaglichter und durch
weit ausgedehnte Perspectiven zu überraschen. Bei der niederländischen Geschichte
kam ihm der verhältnißmäßig beschränkte Umfang des Gegenstandes zu statten. Schon
die italienische Geschichte ist sehr ungleichmäßig ausgearbeitet. Die Auseinander¬
setzung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse des altewJtalieus seit der Herrschaft
der Longobarden ist vortrefflich, ebenso, was in den nächstfolgenden Bänden
über die allmälige Entwickelung der Municipalverfassung und der Dyuasteuhcrrschaft
unter den deutschen Kaisern gesagt ist. Ueber diesen Gegenstand hatte Leo schon
früher eigene Studien gemacht und wie alles, was man mit Vorliebe treibt, hat
sich auch diese Geschichte ihm zu einem klaren Bilde vergegenwärtigt. Ein günstiger
Umstand ist noch, daß hier die verschiedenen Sympathien des Geschichtschreibers,
Kaiserthum, Kirche, organisches Städtewesen, miteinander in Conflict gerathen
und eben darum eine objective Darstellung möglich machen, weil ein Enthusiasmus
den andern einschränkt und das Gefühl verhindert, jemals ins Maßlose über-
zuschweifen. Allein schon in dieser Periode führt es ihn zuweilen in Verirrungen,
daß er geistreichen Einfällen keinen Widerstand zu leisten weiß. Er ist seiner
eigenen Phantasie gegenüber stets kritiklos. So kommt er bei der Geschichte
Venedigs auf den artigen Einfall, diesen seltsamen Sraat mit einem Schiffe zu
vergleichen; die Localität paßt vortrefflich nud auch in den RechtSinstitntivnen lassen
sich, wenn man es nicht gar zu genau nehmen will, überraschende Vergleichungs-
punkte auffinden. Aber nnn wird dieser Einfall zu Tode gehetzt, und die ganze
Geschichte Venedigs darauf bezöge?,. Für ein wissenschaftliches Werk ist es
jedenfalls eine sonderbare Wendung, auf ein bloßes Bild, das, so glänzend es
sein mag, doch immer »ur halbe Wahrheit enthält, eine historische Auseinander¬
setzung zu begründe,,, Leo ist zuweilen glänzend im Charakrerisiren, aber für
die Erzählung, die bei einem Geschichtwerke doch immer die Hauptsache ist, hat
er eigentlich kein Talent, weil er zu wenig Ruhe und Andacht für die Thatsachen
mitbringt. — Auf ein anderes Bild müssen wir etwas genauer eingehen/ weil es
charakteristisch für sein ganzes System ist. Wenn wir vorher sagten, daß die
verschiedenen Sympathien sich einander die Wage halten, so müssen wir doch
hinzusetzen, daß der Grundzug des Gemäldes antighibclliiusch ist. Als Princip
des Ghibellinenthnms stellt Leo die Selbstgerechtigkeit dar und analysirt sie bei
einem der Führer der Ghibellinen, bei Ezzelin von Romano. Dieser war von
Natur ein kräftiger, tüchtiger und wohlgesinnter Mann, von starkem, unerschütter¬
lichem Rechtsgefühl, der ganz zu einem Wohlthäter seines Volkes bestimmt Den,
der aber, weil er den Inhalt seines Rechtsgefühls gewaltsam durchführen wollte,
ohne sich an die ihm widerstrebenden sittlichen und gesellschaftlichen Voraus¬
setzungen seiner Zeit zu kehren, zu einem Despoten wurde und sich zu den
willkürlichsten Ungerechtigkeiten, zu deu abscheulichsten Grausamkeiten verführen
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