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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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machen. Beim Epos dagegen muß die Handlung sich am stärksten nud massen¬
haftesten um den Schluß concentriren. Hier ist eine große Katastrophe die
Hauptsache, ihr gegenüber erscheine" alle früheren Theile der Handlung als
Einleitung und Vorbereitung. Dies verlangt die genaueste Ausführung, die
glänzendsten Farben, die höchste Kraft und deshalb nimmt sie auch einen ver¬
hältnismäßig großen Raum in Anspruch. In ihr muß der mächtige Strom der
Ereignisse in starke Spannung setzen und diese Spannung muß durch einen ent¬
sprechenden Ausgang vollständig befriedigen. In dieser Schlußbegebcuheit muß
die innere Nothwendigkeit, der logische Zusammenhang, also der künstlerische Bau
der Begebenheit verständlich werden und durch seiue Verminst und seine ethische
Wahrheit imponiren. Dies alles muß sein, unter andern ans zwei sehr
praktischen Gründen: Erstens braucht jedes größere Epos eine starke Steigerung
des Interesses, da die gehaltene, langathmige und verhältnißmäßig einfache Dar¬
stellung leicht ermüdet. Diese Steigerung kann aber nur durch zweckvolle Häufung
der Begebenheiten und deren vermehrte Wichtigkeit hervorgebracht werden. Ferner
aber spielt die ganze Umgebung der Hauptpersonen beim Epos eine andere Rolle,
als beim Drama. Beim Drama sind es einzelne Individualitäten, aus deren
innerstem Gemüthsleben die Hcindlmig herausgeht, lebendige Mensche", welche
sichtlich vor unseren Angen erstehen und denen gegenüber wir Auge gegen Auge
unser Sittengesetz und die Grundgesetze, welche unser Leben regieren, ans klarer
Empfindung zur Geltung gebracht wissen wollen. Beim Epos wird viel mehr
von der Welt, welche die Einzelnen umgibt und bestimmt, dargestellt, die Personen
erscheinen fortwährend in Abhängigkeit von den Sitten ihres Volkes, ihrer
gesellschaftlichen Stellung, der Einwirkungen anderer Persönlichkeiten, die Be¬
gebenheiten werden viel weniger durch einen inneren psychologischen Proceß in
den Individuen, als durch äußerliche Aetiouen zur Entwickelung gebracht. Und
weil dies so ist, müssen wir die ganze Welt, in welcher die Helden leben, in
Bewegung, ihre Umgebung mit im Kampfe, die äußere Action mit imponirender
Ausführung vor uns sehen.

So hat auch die menschliche Vernunft seit der Urzeit Heldendichtungen com-
ponirt, oft ohne sich diese Gesetze durch Reflexion klar zu machen. Und nicht
nur die einzelnen großen Dichter haben das gethan (mit einzelnen Ausnahmen,
welche der Regel zur Bestätigung, dienen, z. B. Dante) sondern ganze Völker haben
ihree pischen Stoffe nach demselben Grundsatz zu Gedichten abgeschlossen. Und wir
beurtheilen den Adel, die Kraft und deu Kunstsinn einer Volksseele unter andern
auch darnach, wie groß ihr Compositionövermögen bei der poetischen Formung
ihrer Heldeustvffe ist. Die Ilias, die Odyssee, das Nibelungenlied zeigen trotz aller
Zufälligkeiten und Störungen im innern Bau die starke Kraft der Griechen und
Deutschen in dem anffallend mächtigen Bau der epischen Katastrophen. Es gibt
nichts, was episch schöner componirt wäre, als die Katastrophe der Ilias, der


machen. Beim Epos dagegen muß die Handlung sich am stärksten nud massen¬
haftesten um den Schluß concentriren. Hier ist eine große Katastrophe die
Hauptsache, ihr gegenüber erscheine» alle früheren Theile der Handlung als
Einleitung und Vorbereitung. Dies verlangt die genaueste Ausführung, die
glänzendsten Farben, die höchste Kraft und deshalb nimmt sie auch einen ver¬
hältnismäßig großen Raum in Anspruch. In ihr muß der mächtige Strom der
Ereignisse in starke Spannung setzen und diese Spannung muß durch einen ent¬
sprechenden Ausgang vollständig befriedigen. In dieser Schlußbegebcuheit muß
die innere Nothwendigkeit, der logische Zusammenhang, also der künstlerische Bau
der Begebenheit verständlich werden und durch seiue Verminst und seine ethische
Wahrheit imponiren. Dies alles muß sein, unter andern ans zwei sehr
praktischen Gründen: Erstens braucht jedes größere Epos eine starke Steigerung
des Interesses, da die gehaltene, langathmige und verhältnißmäßig einfache Dar¬
stellung leicht ermüdet. Diese Steigerung kann aber nur durch zweckvolle Häufung
der Begebenheiten und deren vermehrte Wichtigkeit hervorgebracht werden. Ferner
aber spielt die ganze Umgebung der Hauptpersonen beim Epos eine andere Rolle,
als beim Drama. Beim Drama sind es einzelne Individualitäten, aus deren
innerstem Gemüthsleben die Hcindlmig herausgeht, lebendige Mensche», welche
sichtlich vor unseren Angen erstehen und denen gegenüber wir Auge gegen Auge
unser Sittengesetz und die Grundgesetze, welche unser Leben regieren, ans klarer
Empfindung zur Geltung gebracht wissen wollen. Beim Epos wird viel mehr
von der Welt, welche die Einzelnen umgibt und bestimmt, dargestellt, die Personen
erscheinen fortwährend in Abhängigkeit von den Sitten ihres Volkes, ihrer
gesellschaftlichen Stellung, der Einwirkungen anderer Persönlichkeiten, die Be¬
gebenheiten werden viel weniger durch einen inneren psychologischen Proceß in
den Individuen, als durch äußerliche Aetiouen zur Entwickelung gebracht. Und
weil dies so ist, müssen wir die ganze Welt, in welcher die Helden leben, in
Bewegung, ihre Umgebung mit im Kampfe, die äußere Action mit imponirender
Ausführung vor uns sehen.

So hat auch die menschliche Vernunft seit der Urzeit Heldendichtungen com-
ponirt, oft ohne sich diese Gesetze durch Reflexion klar zu machen. Und nicht
nur die einzelnen großen Dichter haben das gethan (mit einzelnen Ausnahmen,
welche der Regel zur Bestätigung, dienen, z. B. Dante) sondern ganze Völker haben
ihree pischen Stoffe nach demselben Grundsatz zu Gedichten abgeschlossen. Und wir
beurtheilen den Adel, die Kraft und deu Kunstsinn einer Volksseele unter andern
auch darnach, wie groß ihr Compositionövermögen bei der poetischen Formung
ihrer Heldeustvffe ist. Die Ilias, die Odyssee, das Nibelungenlied zeigen trotz aller
Zufälligkeiten und Störungen im innern Bau die starke Kraft der Griechen und
Deutschen in dem anffallend mächtigen Bau der epischen Katastrophen. Es gibt
nichts, was episch schöner componirt wäre, als die Katastrophe der Ilias, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/373>, abgerufen am 06.02.2025.