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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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zu freien. Die Hochzeit wird unter Gesang und Festen gefeiert. Als der junge
Held aber seine Vermählte heimführt nach Hause, wird er auf dem Wege von einem ver¬
schmähten Liebhaber, einem Nusscnfreund, überfallen. Er und die schöne Ada werden
in eine russische Festung geschleppt, Emir Hamsad soll dort erschossen werden,
da stürzt sein Weib zu ihm, beide werden im Getümmel erschlagen. Darauf fällt
Ali Beg rachesuchend in einem Kampf gegen die Russen und der Derwisch fällt,
den Tod suchend, auch in einem Scharmützel gegen die Nüssen.

Diese Begebenheit ist umgeben von einer Anzahl kleiner Episoden, welche Kriegs¬
leben, Landschaft und Sitten der Tscherkessen charakterisiren helfen, aber mit der
Hanptbegebenheit nur in lockerem Zusammenhange stehen. Einige darunter
sind sehr charakteristisch und hübsch erzählt und einzeln betrachtet zu poetischer,
Gestaltung vortrefflich geeignet, aber sie sind dem Gesammteindruck des Epos
doch nicht günstig, denn sie machen eine Schwäche deö Gedichtes doppelt fühlbar,
den Mangel an Composition.

Ein episches Gedicht muß ebenso gut nach bestimmten Gesetzen gebaut werden
als das Drama oder ein größeres Musikstück. Diese Gesetze sind keine zufälligen,
durch Tradition oder unberechtigte Theorie hereingetragenen, sondern es sind die
nothwendigen Bedingungen für eine künstlerische Wirkung des Gedichtes ans
die Seele des Lesenden und Hörenden, d. h. sie helfen dazu, damit das Gedicht
gefalle. Solcher Gesetze gibt es z> B. in Bezug auf die Begebenheit selbst, welche
in dem Gedichte erzählt wird,.mehre. Sie muß einfach sein und leicht verständ¬
lich, sie muß trotz dieser Einfachheit eine Spannung hervorbringen, was zunächst
dadurch möglich wird, daß der Verlauf bis ans Ende nicht von vornherein aus
deu Voraussetzungen des Anfangs zu übersehen ist. Sie muß ferner eine über¬
sichtliche Gliederung in Abschnitte (Gesänge) möglich machen, jeder dieser Gesänge
muß sowol als nothwendiger Theil des Ganzen erscheinen, als anch für sich
selbst ein Ganzes sein, welches in sich organistrt ist, die Hauptsachen in kräftiger
und detaillirter Ausführung unter starkem Lichte zeigt, die Nebensachen, Ver¬
bindungen u. s. w. im schwächeren Lichte um die Hauptsachen gruppirt. Diese
und andere Gesetze der Begebenheit hat das Epos mit jedem größeren Kunstwerk,
auch mit dem Drama, gemein. Allein eine Eigenthümlichkeit des Epos, worin
sich dasselbe wesentlich vom Drama unterscheidet, ist die Stellung und Wichtigkeit,
welche die Katastrophe, der Schlnßtheil in demselben hat. Bet einer dramatischen
Handlung ist der feinste, schwierigste und für den Erfolg vielleicht wichtigste Theil
die Mitte der Handlung, jener Höhenpunkt, zu welchem die dargestellten Menschen
durch ihre Leidenschaften, ihre Befangenheit n. s. w. geführt werden und vou
welchem ab die starke Reaction der Wel5 gegen das einseitige Handeln der In¬
dividuen eintreten muß. Wenn dieser mittlere Knoten eines Dramas richtig ge¬
funden und scharf vom Dichter beleuchtet worden ist, so ist die zweite Concen-
tration 'der Handlung, die Schlußkatastrophe/ verhältnißmäßig leichter wirksam zu


zu freien. Die Hochzeit wird unter Gesang und Festen gefeiert. Als der junge
Held aber seine Vermählte heimführt nach Hause, wird er auf dem Wege von einem ver¬
schmähten Liebhaber, einem Nusscnfreund, überfallen. Er und die schöne Ada werden
in eine russische Festung geschleppt, Emir Hamsad soll dort erschossen werden,
da stürzt sein Weib zu ihm, beide werden im Getümmel erschlagen. Darauf fällt
Ali Beg rachesuchend in einem Kampf gegen die Russen und der Derwisch fällt,
den Tod suchend, auch in einem Scharmützel gegen die Nüssen.

Diese Begebenheit ist umgeben von einer Anzahl kleiner Episoden, welche Kriegs¬
leben, Landschaft und Sitten der Tscherkessen charakterisiren helfen, aber mit der
Hanptbegebenheit nur in lockerem Zusammenhange stehen. Einige darunter
sind sehr charakteristisch und hübsch erzählt und einzeln betrachtet zu poetischer,
Gestaltung vortrefflich geeignet, aber sie sind dem Gesammteindruck des Epos
doch nicht günstig, denn sie machen eine Schwäche deö Gedichtes doppelt fühlbar,
den Mangel an Composition.

Ein episches Gedicht muß ebenso gut nach bestimmten Gesetzen gebaut werden
als das Drama oder ein größeres Musikstück. Diese Gesetze sind keine zufälligen,
durch Tradition oder unberechtigte Theorie hereingetragenen, sondern es sind die
nothwendigen Bedingungen für eine künstlerische Wirkung des Gedichtes ans
die Seele des Lesenden und Hörenden, d. h. sie helfen dazu, damit das Gedicht
gefalle. Solcher Gesetze gibt es z> B. in Bezug auf die Begebenheit selbst, welche
in dem Gedichte erzählt wird,.mehre. Sie muß einfach sein und leicht verständ¬
lich, sie muß trotz dieser Einfachheit eine Spannung hervorbringen, was zunächst
dadurch möglich wird, daß der Verlauf bis ans Ende nicht von vornherein aus
deu Voraussetzungen des Anfangs zu übersehen ist. Sie muß ferner eine über¬
sichtliche Gliederung in Abschnitte (Gesänge) möglich machen, jeder dieser Gesänge
muß sowol als nothwendiger Theil des Ganzen erscheinen, als anch für sich
selbst ein Ganzes sein, welches in sich organistrt ist, die Hauptsachen in kräftiger
und detaillirter Ausführung unter starkem Lichte zeigt, die Nebensachen, Ver¬
bindungen u. s. w. im schwächeren Lichte um die Hauptsachen gruppirt. Diese
und andere Gesetze der Begebenheit hat das Epos mit jedem größeren Kunstwerk,
auch mit dem Drama, gemein. Allein eine Eigenthümlichkeit des Epos, worin
sich dasselbe wesentlich vom Drama unterscheidet, ist die Stellung und Wichtigkeit,
welche die Katastrophe, der Schlnßtheil in demselben hat. Bet einer dramatischen
Handlung ist der feinste, schwierigste und für den Erfolg vielleicht wichtigste Theil
die Mitte der Handlung, jener Höhenpunkt, zu welchem die dargestellten Menschen
durch ihre Leidenschaften, ihre Befangenheit n. s. w. geführt werden und vou
welchem ab die starke Reaction der Wel5 gegen das einseitige Handeln der In¬
dividuen eintreten muß. Wenn dieser mittlere Knoten eines Dramas richtig ge¬
funden und scharf vom Dichter beleuchtet worden ist, so ist die zweite Concen-
tration 'der Handlung, die Schlußkatastrophe/ verhältnißmäßig leichter wirksam zu


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[0372] zu freien. Die Hochzeit wird unter Gesang und Festen gefeiert. Als der junge Held aber seine Vermählte heimführt nach Hause, wird er auf dem Wege von einem ver¬ schmähten Liebhaber, einem Nusscnfreund, überfallen. Er und die schöne Ada werden in eine russische Festung geschleppt, Emir Hamsad soll dort erschossen werden, da stürzt sein Weib zu ihm, beide werden im Getümmel erschlagen. Darauf fällt Ali Beg rachesuchend in einem Kampf gegen die Russen und der Derwisch fällt, den Tod suchend, auch in einem Scharmützel gegen die Nüssen. Diese Begebenheit ist umgeben von einer Anzahl kleiner Episoden, welche Kriegs¬ leben, Landschaft und Sitten der Tscherkessen charakterisiren helfen, aber mit der Hanptbegebenheit nur in lockerem Zusammenhange stehen. Einige darunter sind sehr charakteristisch und hübsch erzählt und einzeln betrachtet zu poetischer, Gestaltung vortrefflich geeignet, aber sie sind dem Gesammteindruck des Epos doch nicht günstig, denn sie machen eine Schwäche deö Gedichtes doppelt fühlbar, den Mangel an Composition. Ein episches Gedicht muß ebenso gut nach bestimmten Gesetzen gebaut werden als das Drama oder ein größeres Musikstück. Diese Gesetze sind keine zufälligen, durch Tradition oder unberechtigte Theorie hereingetragenen, sondern es sind die nothwendigen Bedingungen für eine künstlerische Wirkung des Gedichtes ans die Seele des Lesenden und Hörenden, d. h. sie helfen dazu, damit das Gedicht gefalle. Solcher Gesetze gibt es z> B. in Bezug auf die Begebenheit selbst, welche in dem Gedichte erzählt wird,.mehre. Sie muß einfach sein und leicht verständ¬ lich, sie muß trotz dieser Einfachheit eine Spannung hervorbringen, was zunächst dadurch möglich wird, daß der Verlauf bis ans Ende nicht von vornherein aus deu Voraussetzungen des Anfangs zu übersehen ist. Sie muß ferner eine über¬ sichtliche Gliederung in Abschnitte (Gesänge) möglich machen, jeder dieser Gesänge muß sowol als nothwendiger Theil des Ganzen erscheinen, als anch für sich selbst ein Ganzes sein, welches in sich organistrt ist, die Hauptsachen in kräftiger und detaillirter Ausführung unter starkem Lichte zeigt, die Nebensachen, Ver¬ bindungen u. s. w. im schwächeren Lichte um die Hauptsachen gruppirt. Diese und andere Gesetze der Begebenheit hat das Epos mit jedem größeren Kunstwerk, auch mit dem Drama, gemein. Allein eine Eigenthümlichkeit des Epos, worin sich dasselbe wesentlich vom Drama unterscheidet, ist die Stellung und Wichtigkeit, welche die Katastrophe, der Schlnßtheil in demselben hat. Bet einer dramatischen Handlung ist der feinste, schwierigste und für den Erfolg vielleicht wichtigste Theil die Mitte der Handlung, jener Höhenpunkt, zu welchem die dargestellten Menschen durch ihre Leidenschaften, ihre Befangenheit n. s. w. geführt werden und vou welchem ab die starke Reaction der Wel5 gegen das einseitige Handeln der In¬ dividuen eintreten muß. Wenn dieser mittlere Knoten eines Dramas richtig ge¬ funden und scharf vom Dichter beleuchtet worden ist, so ist die zweite Concen- tration 'der Handlung, die Schlußkatastrophe/ verhältnißmäßig leichter wirksam zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/372>, abgerufen am 06.02.2025.