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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Die russischen Soldaten hofften in Adrianopel auf Erholung nach so langen
Anstrengungen und Gefahren: die Kranken auf Nuhe und Genesung, obgleich
die meisten daselbst nur ein Grab fanden. Wer aber die Verhältnisse übersah,
mußte einsehen, daß die Russen hier am Anfange ihres Verderbens standen.
Deal mir mit 20,000 Mann hatten sie Adrianopel erreicht. So sehr hatten
Wechsel- und Nervenfieber, Dyssenterie, Skorbut, endlich die Pest in dem rus¬
sischen Heere gewüthet. Man kann sich einen Begriff von dem Zustande dieses
Heeres machen, wenn man in officiellen Berichten liest, daß allein in den ö Mo¬
naten vom März bis zum Juli nur in den stehenden Hospitälern (über die Ne-
gimentslazarethe fehlen genane Nachrichten) 81,2-Il Kranke ausgenommen wurden,
von denen 28,7i6 starben und man wird hinter der Wahrheit gewiß nicht zurück¬
bleiben, wenn man die Einbuße der Russen während ihres letzten Feldzugs aus
60,000 Mann veranschlagt. Höchstens -16,000 Kombattanten sind über den Pruth
in ihre Heimat zurückgekommen.

Unter diesen Umständen ist es unbegreiflich, daß Adrianopel den Russen keinen
hartnäckigen Widerstand leistete. Die Stadt hätte mindestens 20,000 bewaffnete
Einwohner zur Vertheidigung stellen können: die im Balkan zersprengten türkischen
Corps zogen ans den verschiedensten Wegen nach Adrianopel heran und ein neues
osmauischcs Heer war von Sophia her in Anmarsch.

Allein Staunen und Schreck hatte sich der Besatzung und der Einwohner
bemächtigt. Die Türken hatten überhaupt während des ganzen Feldzugs die über¬
triebensten Vorstellungen von der russischen Streitmacht: ihre Befehlshaber glaub¬
ten allgemein, das Corps des General Diebitsch sei wenigstens 100,000 Mann
stark. "Man könne eher die Blätter im Walde, als die Köpfe im feindlichen
Heere zählen", rapportiren ein zur Recognoscirung abgeschickter Offizier dem
Osman-Pascha.

Sobald die Russen vor Adrianopel anlangten, erschienen im Lager türkische
Parlamentärs, um zu unterhandeln. Diebitsch bewilligte der Garnison Abzug,
verlangte aber Auslieferung der Waffen, der Artillerie, der Fahnen, Lebensmittel
und der Kriegsmunition. Bereits am folgenden Tage (20. August) nahmen die
Türken diese Bedingungen an, und ohne einen Schuß zu thun, rückte die russische
Armee in Adrianopel ein. Welche Schmach für die stolzen Osmanen, vor denen
einst die Christenheit gezittert hatte!

An demselben Tage als Adrianopel ergab sich einer russischen Division die
Stadt Kirkilissia (vierzig Kirchen). Sie liegt auf der Spitze eines westlichen
Contreforts des kleinen Balkan, zwischen den Thälern des Salsd^rv und Tekedvrv
und beherrscht die directe Straße, welche von Schumla über Falls nach Kon¬
stantinopel führt, und bei Kirkilissia ö Meilen östlich von Adrianopel entfernt ist.

Die russische Flotte unter Admiral Greigh hatte sich längs der Westküste
des schwarzen Meeres mit der vordringenden Landarmee auf gleicher Höhe gehal-


Die russischen Soldaten hofften in Adrianopel auf Erholung nach so langen
Anstrengungen und Gefahren: die Kranken auf Nuhe und Genesung, obgleich
die meisten daselbst nur ein Grab fanden. Wer aber die Verhältnisse übersah,
mußte einsehen, daß die Russen hier am Anfange ihres Verderbens standen.
Deal mir mit 20,000 Mann hatten sie Adrianopel erreicht. So sehr hatten
Wechsel- und Nervenfieber, Dyssenterie, Skorbut, endlich die Pest in dem rus¬
sischen Heere gewüthet. Man kann sich einen Begriff von dem Zustande dieses
Heeres machen, wenn man in officiellen Berichten liest, daß allein in den ö Mo¬
naten vom März bis zum Juli nur in den stehenden Hospitälern (über die Ne-
gimentslazarethe fehlen genane Nachrichten) 81,2-Il Kranke ausgenommen wurden,
von denen 28,7i6 starben und man wird hinter der Wahrheit gewiß nicht zurück¬
bleiben, wenn man die Einbuße der Russen während ihres letzten Feldzugs aus
60,000 Mann veranschlagt. Höchstens -16,000 Kombattanten sind über den Pruth
in ihre Heimat zurückgekommen.

Unter diesen Umständen ist es unbegreiflich, daß Adrianopel den Russen keinen
hartnäckigen Widerstand leistete. Die Stadt hätte mindestens 20,000 bewaffnete
Einwohner zur Vertheidigung stellen können: die im Balkan zersprengten türkischen
Corps zogen ans den verschiedensten Wegen nach Adrianopel heran und ein neues
osmauischcs Heer war von Sophia her in Anmarsch.

Allein Staunen und Schreck hatte sich der Besatzung und der Einwohner
bemächtigt. Die Türken hatten überhaupt während des ganzen Feldzugs die über¬
triebensten Vorstellungen von der russischen Streitmacht: ihre Befehlshaber glaub¬
ten allgemein, das Corps des General Diebitsch sei wenigstens 100,000 Mann
stark. „Man könne eher die Blätter im Walde, als die Köpfe im feindlichen
Heere zählen", rapportiren ein zur Recognoscirung abgeschickter Offizier dem
Osman-Pascha.

Sobald die Russen vor Adrianopel anlangten, erschienen im Lager türkische
Parlamentärs, um zu unterhandeln. Diebitsch bewilligte der Garnison Abzug,
verlangte aber Auslieferung der Waffen, der Artillerie, der Fahnen, Lebensmittel
und der Kriegsmunition. Bereits am folgenden Tage (20. August) nahmen die
Türken diese Bedingungen an, und ohne einen Schuß zu thun, rückte die russische
Armee in Adrianopel ein. Welche Schmach für die stolzen Osmanen, vor denen
einst die Christenheit gezittert hatte!

An demselben Tage als Adrianopel ergab sich einer russischen Division die
Stadt Kirkilissia (vierzig Kirchen). Sie liegt auf der Spitze eines westlichen
Contreforts des kleinen Balkan, zwischen den Thälern des Salsd^rv und Tekedvrv
und beherrscht die directe Straße, welche von Schumla über Falls nach Kon¬
stantinopel führt, und bei Kirkilissia ö Meilen östlich von Adrianopel entfernt ist.

Die russische Flotte unter Admiral Greigh hatte sich längs der Westküste
des schwarzen Meeres mit der vordringenden Landarmee auf gleicher Höhe gehal-


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[0344] Die russischen Soldaten hofften in Adrianopel auf Erholung nach so langen Anstrengungen und Gefahren: die Kranken auf Nuhe und Genesung, obgleich die meisten daselbst nur ein Grab fanden. Wer aber die Verhältnisse übersah, mußte einsehen, daß die Russen hier am Anfange ihres Verderbens standen. Deal mir mit 20,000 Mann hatten sie Adrianopel erreicht. So sehr hatten Wechsel- und Nervenfieber, Dyssenterie, Skorbut, endlich die Pest in dem rus¬ sischen Heere gewüthet. Man kann sich einen Begriff von dem Zustande dieses Heeres machen, wenn man in officiellen Berichten liest, daß allein in den ö Mo¬ naten vom März bis zum Juli nur in den stehenden Hospitälern (über die Ne- gimentslazarethe fehlen genane Nachrichten) 81,2-Il Kranke ausgenommen wurden, von denen 28,7i6 starben und man wird hinter der Wahrheit gewiß nicht zurück¬ bleiben, wenn man die Einbuße der Russen während ihres letzten Feldzugs aus 60,000 Mann veranschlagt. Höchstens -16,000 Kombattanten sind über den Pruth in ihre Heimat zurückgekommen. Unter diesen Umständen ist es unbegreiflich, daß Adrianopel den Russen keinen hartnäckigen Widerstand leistete. Die Stadt hätte mindestens 20,000 bewaffnete Einwohner zur Vertheidigung stellen können: die im Balkan zersprengten türkischen Corps zogen ans den verschiedensten Wegen nach Adrianopel heran und ein neues osmauischcs Heer war von Sophia her in Anmarsch. Allein Staunen und Schreck hatte sich der Besatzung und der Einwohner bemächtigt. Die Türken hatten überhaupt während des ganzen Feldzugs die über¬ triebensten Vorstellungen von der russischen Streitmacht: ihre Befehlshaber glaub¬ ten allgemein, das Corps des General Diebitsch sei wenigstens 100,000 Mann stark. „Man könne eher die Blätter im Walde, als die Köpfe im feindlichen Heere zählen", rapportiren ein zur Recognoscirung abgeschickter Offizier dem Osman-Pascha. Sobald die Russen vor Adrianopel anlangten, erschienen im Lager türkische Parlamentärs, um zu unterhandeln. Diebitsch bewilligte der Garnison Abzug, verlangte aber Auslieferung der Waffen, der Artillerie, der Fahnen, Lebensmittel und der Kriegsmunition. Bereits am folgenden Tage (20. August) nahmen die Türken diese Bedingungen an, und ohne einen Schuß zu thun, rückte die russische Armee in Adrianopel ein. Welche Schmach für die stolzen Osmanen, vor denen einst die Christenheit gezittert hatte! An demselben Tage als Adrianopel ergab sich einer russischen Division die Stadt Kirkilissia (vierzig Kirchen). Sie liegt auf der Spitze eines westlichen Contreforts des kleinen Balkan, zwischen den Thälern des Salsd^rv und Tekedvrv und beherrscht die directe Straße, welche von Schumla über Falls nach Kon¬ stantinopel führt, und bei Kirkilissia ö Meilen östlich von Adrianopel entfernt ist. Die russische Flotte unter Admiral Greigh hatte sich längs der Westküste des schwarzen Meeres mit der vordringenden Landarmee auf gleicher Höhe gehal-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/344>, abgerufen am 06.02.2025.