Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.Solange der deutsche Geist, die productive Kraft unserer Geschichte, noch fortwirkt, Die zweite Auflage der "Geschichte der deutschen Sprache" ist ein schönes 26'
Solange der deutsche Geist, die productive Kraft unserer Geschichte, noch fortwirkt, Die zweite Auflage der „Geschichte der deutschen Sprache" ist ein schönes 26'
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Solange der deutsche Geist, die productive Kraft unserer Geschichte, noch fortwirkt,
können uns die Schwankungen in der augenblicklichen Erscheinung nicht irren.
Die zweite Auflage der „Geschichte der deutschen Sprache" ist ein schönes
Zeichen. Denn Grimm hat es dem Volk nicht leicht gemacht, den unerschöpflichen
Reichthum bedeutendster und folgenreichster Forschungen, den er darbietet, sich
anzueignen. Was ihn vorzugsweise befähigt hat, die bereits zu einem so un¬
übersehbaren Umfang angewachsene deutsche Sprachwissenschaft wie aus dem Nichts
zu schaffen, seine Methode nämlich, aus dem Einzelnen anzufangen, und aus der
massenhaften Anhäufung des Einzelnen erst das Allgemeine aufzubauen, ist für
die Wissenschaft ersprießlicher als für den Leser, der nach Resultaten eilt. Er
drückt sich selber in der Vorrede sehr schön darüber aus: „Jede Wissenschaft hat
ihre natürlichen Grenzen, die aber selten dem Auge so einfach vorliegen, wie das
Stromgebiet des Bachs, in dessen Mitte nach unsern Weisthümern ein schneiden¬
des Schwert gesteckt wird, damit das Wasser zu beiden Seiten abfließe. Willige
Forscher sollen also den verschlungenen Pfaden folgen, und bald leichteres, bald
schwereres Geschühe anlegen, um sie betreten zu können. Wer nichts wagt, ge¬
winnt nichts, und man darf mitten unter dem Greifen nach der neuen Frucht
anch den Muth des Fehlens haben. Ans dem Dunkel bricht das Licht hervor,
und der vorschreitende Tag pflegt sich ans seine Zehen zu stellen. Von der großen
Heerstraße abwärts liebe ich durch enge Kornfelder zu wandeln und ein verkroche-
nes Wicsenblümchen zu brechen, nach dem andere sich nicht niederducken würden."
Nun will uns bedünken, daß bei dieser Anlage der Forschung es nur einen Weg
gab, dem suchenden Schüler die Folge zu erleichtern, nämlich Hauptweg und
Nebenpfad mit starke», sinnlich wahrnehmbaren Strichen zu scheiden. Daß Grimm
diese, in der deutschen Wissenschaft sonst übliche Scheidung verschmäht, vielleicht
in dem gerechten Gefühl, daß im höhern Sinn alles, was er gibt, eine gleiche
Berechtigung beanspruchen dürfe, erschwert hauptsächlich das Studium seiner
Schriften; weniger der eigenthümliche Stil, der uus zwar zu Anfang fremdartig
entgegentritt, der uus aber bald wegen seines geiht- und gemüthvollen Gehalts
auf eine wunderbare Weise fesselt und in den wir uns endlich ganz hineinleben.
Und wenn in irgend einem Werke schon die Schwierigkeit des Inhalts groß ist,
so ist es dieses, dessen Horizont sich weit über den gewohnten Gesichtskreis seiner
Forschungen erstreckt. Das Wörterbuch beschäftigt sich ausschließlich mit dem neu¬
hochdeutschen Sprachschatze, dessen unermeßliche Fülle es uns zum ersten Male
aufgeschlossen hat; die Grammatik mit den verschiedenen Zweigen des germanischen
Stammes; die „Geschichte" dagegen taucht sich mit einer erschreckenden Kühnheit
in den Ocean jener Sprachverwandtschaft, die man als die indogermanische zu
bezeichnen pflegt, und unternimmt es, innerhalb derselben dem germanischen Strom
sein Bette anzuweisen, in historischem Zusammenhang, oft nur durch einzelne, un¬
scheinbare Malzeichen geleitet. Trotz aller dieser Schwierigkeiten hat sich das
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