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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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wesentlich anders. Weder der Friede von Kainardshi, noch der von Adrianopel
haben dem Zar ein Protectorat über die griechischen Unterthanen des Padischcch
ertheilt, ein Protectorat, das überhaupt keine andere Basis als den Ehrgeiz der
russischen Politik hat, da der Patriarch von Konstantinopel keineswegs seine Ab¬
hängigkeit von dem Haupt der russisch-griechischen Kirche anerkennt. Der viel
berührte Vertrag von Kainardshi gibt Rußland nur das Protectorat über eine
besonders bezeichnete, in der Vorstadt von Konstantinopel, Galata, zu erbauende
Kirche und der von Adrianopel gibt ihm nichts, woran sich so ungemessene An¬
sprüche knüpfen ließen. Es handelt sich hier nicht um die erneute Anerkennung
unzweideutiger Vertragspunkte, die auch ziemlich überflüssig wäre, da die Pforte
die Giltigkeit jener Verträge nicht in Zweifel stellt, es handelt sich um eine
ganz neue Interpretation bestehender Verträge, die Rußland im Interesse
seiner weitgreifenden Pläne der Pforte aufnöthigen will. Die vom Fürsten Menschi-
koff verlangte Note soll nicht bekräftigen, was in jenen Verträgen steht, sie soll
hineinlegen, was bis jetzt niemand darin gefunden hat. Und diese Interpre¬
tation macht sich das Cabinet von Se. Petersburg so bequem, daß der Text der
von ihm dem Divan unterbreiteten Note ohne jede nähere Bezeichnung, ja ohne
auch nnr namentliche Erwähnung der besagten Friedensschlüsse einfach davon
spricht, ,/.durch ergänzende Beleuchtungen, welche der Lauf der Zeit
erfordert, den Sinn der Artikel zu vervollständigen, die in den
früheren, von den beiden Mächten geschlossenen Verträgen, die
religiösen Fragen behandeln." Nach dieser Methode wäre es ein Leich-'
tes, alle Verträge, worauf das internationale Recht Europas beruht, über den
Hausen zu werfen. Rußland könnte mit dieser summarischen Motivirung eines
schönen Tages von Preußen Posen, von Oestreich Galizien verlangen, um
die Theilung Polens durch ergänzende Beleuchtung zu vervollständigen, welche
der Brief der Zeit erfordert! Es bedürfte zu diesem Cynismus gewaltsamer
Plünderung nur der erforderlichen Macht, und die würde sich wahrscheinlich bald
finden, wenn der russische Koloß erst alle Slaven und Griechen der Türkei sich
einverleibt hätte.

Dies ist der rechtliche Thatbestand der zwischen Rußland und der Türkei
schwebenden Streitfrage. Ihre politische Seite ist bereits genug erörtert, um
jeden, der nicht ganz besondere Gründe hat, es mit Rußland zu halten, von den
Gefahren zu überzeugen, die dem Gleichgewicht Enropas, vor allem der Unab¬
hängigkeit der deutschen Mächte drohen, wenn der Zar Forderungen durchsetzt,
die ihn zu dem unvermeidlichen Erben jener ausgedehnten, durch ihre Lage noch
mehr, eilf durch ihre Fruchtbarkeit unermeßlich wichtigen Gebiete macheu würden,
welche in Europa und. an den asiatischen Küsten des schwarzen und mittelländischen
.Meeres gegenwärtig dem Scepter des Sultans unterworfen sind. Wenn trotzdem
angesehene Organe der deutschen Presse in leidenschaftlichem Eifer die Partei Nuß-


Grenzboten, in. 10

wesentlich anders. Weder der Friede von Kainardshi, noch der von Adrianopel
haben dem Zar ein Protectorat über die griechischen Unterthanen des Padischcch
ertheilt, ein Protectorat, das überhaupt keine andere Basis als den Ehrgeiz der
russischen Politik hat, da der Patriarch von Konstantinopel keineswegs seine Ab¬
hängigkeit von dem Haupt der russisch-griechischen Kirche anerkennt. Der viel
berührte Vertrag von Kainardshi gibt Rußland nur das Protectorat über eine
besonders bezeichnete, in der Vorstadt von Konstantinopel, Galata, zu erbauende
Kirche und der von Adrianopel gibt ihm nichts, woran sich so ungemessene An¬
sprüche knüpfen ließen. Es handelt sich hier nicht um die erneute Anerkennung
unzweideutiger Vertragspunkte, die auch ziemlich überflüssig wäre, da die Pforte
die Giltigkeit jener Verträge nicht in Zweifel stellt, es handelt sich um eine
ganz neue Interpretation bestehender Verträge, die Rußland im Interesse
seiner weitgreifenden Pläne der Pforte aufnöthigen will. Die vom Fürsten Menschi-
koff verlangte Note soll nicht bekräftigen, was in jenen Verträgen steht, sie soll
hineinlegen, was bis jetzt niemand darin gefunden hat. Und diese Interpre¬
tation macht sich das Cabinet von Se. Petersburg so bequem, daß der Text der
von ihm dem Divan unterbreiteten Note ohne jede nähere Bezeichnung, ja ohne
auch nnr namentliche Erwähnung der besagten Friedensschlüsse einfach davon
spricht, ,/.durch ergänzende Beleuchtungen, welche der Lauf der Zeit
erfordert, den Sinn der Artikel zu vervollständigen, die in den
früheren, von den beiden Mächten geschlossenen Verträgen, die
religiösen Fragen behandeln." Nach dieser Methode wäre es ein Leich-'
tes, alle Verträge, worauf das internationale Recht Europas beruht, über den
Hausen zu werfen. Rußland könnte mit dieser summarischen Motivirung eines
schönen Tages von Preußen Posen, von Oestreich Galizien verlangen, um
die Theilung Polens durch ergänzende Beleuchtung zu vervollständigen, welche
der Brief der Zeit erfordert! Es bedürfte zu diesem Cynismus gewaltsamer
Plünderung nur der erforderlichen Macht, und die würde sich wahrscheinlich bald
finden, wenn der russische Koloß erst alle Slaven und Griechen der Türkei sich
einverleibt hätte.

Dies ist der rechtliche Thatbestand der zwischen Rußland und der Türkei
schwebenden Streitfrage. Ihre politische Seite ist bereits genug erörtert, um
jeden, der nicht ganz besondere Gründe hat, es mit Rußland zu halten, von den
Gefahren zu überzeugen, die dem Gleichgewicht Enropas, vor allem der Unab¬
hängigkeit der deutschen Mächte drohen, wenn der Zar Forderungen durchsetzt,
die ihn zu dem unvermeidlichen Erben jener ausgedehnten, durch ihre Lage noch
mehr, eilf durch ihre Fruchtbarkeit unermeßlich wichtigen Gebiete macheu würden,
welche in Europa und. an den asiatischen Küsten des schwarzen und mittelländischen
.Meeres gegenwärtig dem Scepter des Sultans unterworfen sind. Wenn trotzdem
angesehene Organe der deutschen Presse in leidenschaftlichem Eifer die Partei Nuß-


Grenzboten, in. 10
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/81>, abgerufen am 23.07.2024.