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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Gegenstand dennoch ein freies und unabhängiges Urtheil zu bewahren, ist hier
auf die Spitze getrieben.--Die Polemik gegen Gladstone wegen dessen Schrift
über Staat und Kirche ist eine glückliche Widerlegung dieses geistvollen, glänzen¬
den, aber eigentlich principlosen Sophisten.

In den beiden letzten Bänden haben wir noch drei literargeschichtliche Ab¬
handlungen über die Lustspieldichter aus der Restauration, über Madame
dArblay und über Addison. Alle drei sind, wenn man sie als Sittenschil¬
derungen betrachtet, im vollsten Maße gelungen; sie vergegenwärtigen uns die
sittlichen Vorstellungen jener Zeiten und ihren Einfluß auf die dichterischen Ver¬
suche, wie ans die Charaktere, auf das vortrefflichste. In Beziehung auf die
ästhetischen Urtheile möchten wir manche Einwendung machen. Macaulay scheint
uns z. B. das Talent jener Lustspieldichter etwas zu überschätzen, obgleich wir
gern zugestehen wollen, daß grade in dieser Gattung der Poesie der Ausländer
mit seinem Urtheil vorsichtig und zurückhaltend sein muß. Ein Deutscher wird
z. B. nie in Moliere das finden, was die Franzosen in ihm finden; er muß
sich seine Schätzung immer erst literarhistorisch vermitteln, und grade in dieser
Beziehung kommen uns Maccmlays Kritiken sehr zu Hilfe. Er macht es nicht,
wie viele unsrer deutschen Kritiker, die ein Kunstwerk als außerhalb aller Zeit
und alles Raumes liegend betrachten, sondern er analystrt es und stellt seinen
Werth und seine Schwächen im Verhältniß zu den gegebenen Voraussetzungen fest.

Noch bedeutender als diese literarhistorischen Monographien sind die drei
Charakteristiken von Lord Clive (-1840), Warren Hastings (1841) und Lord
ChMham (1844). Da wir wol nicht das Glück haben werden, Macaulays
größeres Geschichtwerk auch in den Zeiten, in denen diese Charakteristiken spielen,
verfolgen zu könne", so müssen wir diese als eine willkommene Ergänzung
begrüßen.

Wir haben freilich in dem Vorigen, weiter nichts gegeben, als einzelne
dürftige Andeutungen; wir wollten nnr ans die wunderbare Fülle von Belehrungen
hinweisen, die sich in diesem verhältnißmäßig kleinen Raum uns entgegendrängt.
Wir haben schon öfters darauf hingewiesen, daß die neuere englische Literatur in
unsern Augen höher steht, als die deutsche, und wir haben uns dnrch den Vor¬
wurf eines Mangels an Patriotismus, den man deshalb gegen uns erhoben hat,
nicht stören lassen. Die Lectüre der englischen Schriftsteller ist in den meisten
Fällen anch auf unsre deutschen Voraussetzungen weit nrehr berechnet, weit geeig¬
neter, unsere Empfindung zu veredeln, unsere Anschauung zu bereichern,
unser Denken zu reinigen, als die der deutscheu Schriftsteller. In Beziehung
auf die Poesie haben wir es schon öfters ausgeführt, aber wir fragen alle
Welt, wen von unsern deutschen Geschichtschreibern will man mit Macaulay
oder Grote zusammenstellen? Wir haben Geschichtschreiber, in denen sich eine
große Gelehrsamkeit und ein großer kritischer Scharfsinn zeigt, Geschichtschreiber


Gegenstand dennoch ein freies und unabhängiges Urtheil zu bewahren, ist hier
auf die Spitze getrieben.—Die Polemik gegen Gladstone wegen dessen Schrift
über Staat und Kirche ist eine glückliche Widerlegung dieses geistvollen, glänzen¬
den, aber eigentlich principlosen Sophisten.

In den beiden letzten Bänden haben wir noch drei literargeschichtliche Ab¬
handlungen über die Lustspieldichter aus der Restauration, über Madame
dArblay und über Addison. Alle drei sind, wenn man sie als Sittenschil¬
derungen betrachtet, im vollsten Maße gelungen; sie vergegenwärtigen uns die
sittlichen Vorstellungen jener Zeiten und ihren Einfluß auf die dichterischen Ver¬
suche, wie ans die Charaktere, auf das vortrefflichste. In Beziehung auf die
ästhetischen Urtheile möchten wir manche Einwendung machen. Macaulay scheint
uns z. B. das Talent jener Lustspieldichter etwas zu überschätzen, obgleich wir
gern zugestehen wollen, daß grade in dieser Gattung der Poesie der Ausländer
mit seinem Urtheil vorsichtig und zurückhaltend sein muß. Ein Deutscher wird
z. B. nie in Moliere das finden, was die Franzosen in ihm finden; er muß
sich seine Schätzung immer erst literarhistorisch vermitteln, und grade in dieser
Beziehung kommen uns Maccmlays Kritiken sehr zu Hilfe. Er macht es nicht,
wie viele unsrer deutschen Kritiker, die ein Kunstwerk als außerhalb aller Zeit
und alles Raumes liegend betrachten, sondern er analystrt es und stellt seinen
Werth und seine Schwächen im Verhältniß zu den gegebenen Voraussetzungen fest.

Noch bedeutender als diese literarhistorischen Monographien sind die drei
Charakteristiken von Lord Clive (-1840), Warren Hastings (1841) und Lord
ChMham (1844). Da wir wol nicht das Glück haben werden, Macaulays
größeres Geschichtwerk auch in den Zeiten, in denen diese Charakteristiken spielen,
verfolgen zu könne», so müssen wir diese als eine willkommene Ergänzung
begrüßen.

Wir haben freilich in dem Vorigen, weiter nichts gegeben, als einzelne
dürftige Andeutungen; wir wollten nnr ans die wunderbare Fülle von Belehrungen
hinweisen, die sich in diesem verhältnißmäßig kleinen Raum uns entgegendrängt.
Wir haben schon öfters darauf hingewiesen, daß die neuere englische Literatur in
unsern Augen höher steht, als die deutsche, und wir haben uns dnrch den Vor¬
wurf eines Mangels an Patriotismus, den man deshalb gegen uns erhoben hat,
nicht stören lassen. Die Lectüre der englischen Schriftsteller ist in den meisten
Fällen anch auf unsre deutschen Voraussetzungen weit nrehr berechnet, weit geeig¬
neter, unsere Empfindung zu veredeln, unsere Anschauung zu bereichern,
unser Denken zu reinigen, als die der deutscheu Schriftsteller. In Beziehung
auf die Poesie haben wir es schon öfters ausgeführt, aber wir fragen alle
Welt, wen von unsern deutschen Geschichtschreibern will man mit Macaulay
oder Grote zusammenstellen? Wir haben Geschichtschreiber, in denen sich eine
große Gelehrsamkeit und ein großer kritischer Scharfsinn zeigt, Geschichtschreiber


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[0492] Gegenstand dennoch ein freies und unabhängiges Urtheil zu bewahren, ist hier auf die Spitze getrieben.—Die Polemik gegen Gladstone wegen dessen Schrift über Staat und Kirche ist eine glückliche Widerlegung dieses geistvollen, glänzen¬ den, aber eigentlich principlosen Sophisten. In den beiden letzten Bänden haben wir noch drei literargeschichtliche Ab¬ handlungen über die Lustspieldichter aus der Restauration, über Madame dArblay und über Addison. Alle drei sind, wenn man sie als Sittenschil¬ derungen betrachtet, im vollsten Maße gelungen; sie vergegenwärtigen uns die sittlichen Vorstellungen jener Zeiten und ihren Einfluß auf die dichterischen Ver¬ suche, wie ans die Charaktere, auf das vortrefflichste. In Beziehung auf die ästhetischen Urtheile möchten wir manche Einwendung machen. Macaulay scheint uns z. B. das Talent jener Lustspieldichter etwas zu überschätzen, obgleich wir gern zugestehen wollen, daß grade in dieser Gattung der Poesie der Ausländer mit seinem Urtheil vorsichtig und zurückhaltend sein muß. Ein Deutscher wird z. B. nie in Moliere das finden, was die Franzosen in ihm finden; er muß sich seine Schätzung immer erst literarhistorisch vermitteln, und grade in dieser Beziehung kommen uns Maccmlays Kritiken sehr zu Hilfe. Er macht es nicht, wie viele unsrer deutschen Kritiker, die ein Kunstwerk als außerhalb aller Zeit und alles Raumes liegend betrachten, sondern er analystrt es und stellt seinen Werth und seine Schwächen im Verhältniß zu den gegebenen Voraussetzungen fest. Noch bedeutender als diese literarhistorischen Monographien sind die drei Charakteristiken von Lord Clive (-1840), Warren Hastings (1841) und Lord ChMham (1844). Da wir wol nicht das Glück haben werden, Macaulays größeres Geschichtwerk auch in den Zeiten, in denen diese Charakteristiken spielen, verfolgen zu könne», so müssen wir diese als eine willkommene Ergänzung begrüßen. Wir haben freilich in dem Vorigen, weiter nichts gegeben, als einzelne dürftige Andeutungen; wir wollten nnr ans die wunderbare Fülle von Belehrungen hinweisen, die sich in diesem verhältnißmäßig kleinen Raum uns entgegendrängt. Wir haben schon öfters darauf hingewiesen, daß die neuere englische Literatur in unsern Augen höher steht, als die deutsche, und wir haben uns dnrch den Vor¬ wurf eines Mangels an Patriotismus, den man deshalb gegen uns erhoben hat, nicht stören lassen. Die Lectüre der englischen Schriftsteller ist in den meisten Fällen anch auf unsre deutschen Voraussetzungen weit nrehr berechnet, weit geeig¬ neter, unsere Empfindung zu veredeln, unsere Anschauung zu bereichern, unser Denken zu reinigen, als die der deutscheu Schriftsteller. In Beziehung auf die Poesie haben wir es schon öfters ausgeführt, aber wir fragen alle Welt, wen von unsern deutschen Geschichtschreibern will man mit Macaulay oder Grote zusammenstellen? Wir haben Geschichtschreiber, in denen sich eine große Gelehrsamkeit und ein großer kritischer Scharfsinn zeigt, Geschichtschreiber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/492>, abgerufen am 23.07.2024.