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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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daß in der beständigen Vertiefung der Gegensätze, trotz des beständigen Wechsels
in der Herrschaft eine Stetigkeit stattfindet; er würde nicht nnr in der Auf¬
klärung des 16., 18. nud 19. Jahrhunderts, sondern auch in der entsprechenden
Reaction eine immer geistigere Auffassung und trotz des scheinbar feindseligen
Widerspruchs eine immer größere Annäherung gefunden haben. Der Streit
zwischen den protestantischen und katholischen Gottesgelehrten im 16. Jahrhundert
erfaßte das Wesen der Religion viel tiefer und stand mit dem ganzen Gemüths-
leben in einem viel innigern Zusammenhang, als die kirchlichen Zwistigkeiten des
1i. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert gewinnt der Gegensatz, z. B. bei den
Janseuistcu und bei den speculativen Vertheidigern des Protestantismus, eine
viel höhere geistige Bedeutung, als im 16. Jahrhundert. Im 18. wird durch
die unerbittliche Kritik des Verstandes der Widerspruch schärfer herausgestellt,
die Symbole bekommen eine praktische Wendung, und in unserer Zeit ist die
Vergeistigung auf beiden Seiten schon soweit vorgeschritten, daß auch die lei¬
denschaftlichsten Vertreter des einen oder des andern dieser Principien sich ein¬
ander besser verstehen und würdigen, als sie ihre eigenen Vorgänger zu verstehen
und zu würdigen im Stande sind. Auch die Philosophie schreitet vorwärts, trotz
ihrer häufigen Schwankungen und Verzerrungen, und daß Macaulay mit seinem
klaren Verstände das nicht sieht, liegt nur darin, daß er sie verhälttüßmäßig
wenig kennt. Dieser Fehler tritt uns auch bei seiner Abhandlung über Lord
Bacon (1837) entgegen. Die Darstellung seines Lebens und seines Charakters
ist ein historisches Meisterstück, aber die Analyse seines philosophischen Systems
hat uns nicht befriedigt. Macaulay verwirft eigentlich die gesammte Philosophie
vor Bacon, sowie die idealistische, die sich seit dieser Zeit namentlich in Deutsch¬
land entwickelt hat, ganz und gar; er hält sie für eine leere Spielerei, und das
Talent, das sich in ihr gezeigt hat, für verschwendet. Nun muß es aber sofort
befremden, daß er von der alten Philosophie, außer einigen Platonischen Dialogen,
die er gleichfalls nach einem einseitigen Princip auswählt, vorzugsweise Seueca
anführt, den in der ganzen Welt noch -niemand für einen bedeutenden Philo¬
sophen gehalten hat, und so macht denn die ganze Abhandlung den Eindruck,
der Verfasser, der sonst überall so sorgfältig die verschiedenen Materialien zusam¬
mensucht, sie prüft und vergleicht, ehe er sich zu einem Urtheil entschließt, habe
sich hier zu einem vorschnellen Abschluß verleiten lassen, bevor er des Gegen¬
standes ganz mächtig war.

Aus dem zweiten Bande haben wir noch eine Abhandlung über Haupten
(1831) und über Lord Burleigh (1832) nachzutragen; zwei Meisterstücke in der
plastischen Kunst der Charakteristik.

Im dritten Bande ist die Darstellung des Sir William Temple (1838)
das bedeutendste Werk. Die Kunst, uus die Begebenheiten und Sitten einer
fremden Zeit zu vergegenwärtigen und bei der unbedingtesten Vertiefung in den


daß in der beständigen Vertiefung der Gegensätze, trotz des beständigen Wechsels
in der Herrschaft eine Stetigkeit stattfindet; er würde nicht nnr in der Auf¬
klärung des 16., 18. nud 19. Jahrhunderts, sondern auch in der entsprechenden
Reaction eine immer geistigere Auffassung und trotz des scheinbar feindseligen
Widerspruchs eine immer größere Annäherung gefunden haben. Der Streit
zwischen den protestantischen und katholischen Gottesgelehrten im 16. Jahrhundert
erfaßte das Wesen der Religion viel tiefer und stand mit dem ganzen Gemüths-
leben in einem viel innigern Zusammenhang, als die kirchlichen Zwistigkeiten des
1i. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert gewinnt der Gegensatz, z. B. bei den
Janseuistcu und bei den speculativen Vertheidigern des Protestantismus, eine
viel höhere geistige Bedeutung, als im 16. Jahrhundert. Im 18. wird durch
die unerbittliche Kritik des Verstandes der Widerspruch schärfer herausgestellt,
die Symbole bekommen eine praktische Wendung, und in unserer Zeit ist die
Vergeistigung auf beiden Seiten schon soweit vorgeschritten, daß auch die lei¬
denschaftlichsten Vertreter des einen oder des andern dieser Principien sich ein¬
ander besser verstehen und würdigen, als sie ihre eigenen Vorgänger zu verstehen
und zu würdigen im Stande sind. Auch die Philosophie schreitet vorwärts, trotz
ihrer häufigen Schwankungen und Verzerrungen, und daß Macaulay mit seinem
klaren Verstände das nicht sieht, liegt nur darin, daß er sie verhälttüßmäßig
wenig kennt. Dieser Fehler tritt uns auch bei seiner Abhandlung über Lord
Bacon (1837) entgegen. Die Darstellung seines Lebens und seines Charakters
ist ein historisches Meisterstück, aber die Analyse seines philosophischen Systems
hat uns nicht befriedigt. Macaulay verwirft eigentlich die gesammte Philosophie
vor Bacon, sowie die idealistische, die sich seit dieser Zeit namentlich in Deutsch¬
land entwickelt hat, ganz und gar; er hält sie für eine leere Spielerei, und das
Talent, das sich in ihr gezeigt hat, für verschwendet. Nun muß es aber sofort
befremden, daß er von der alten Philosophie, außer einigen Platonischen Dialogen,
die er gleichfalls nach einem einseitigen Princip auswählt, vorzugsweise Seueca
anführt, den in der ganzen Welt noch -niemand für einen bedeutenden Philo¬
sophen gehalten hat, und so macht denn die ganze Abhandlung den Eindruck,
der Verfasser, der sonst überall so sorgfältig die verschiedenen Materialien zusam¬
mensucht, sie prüft und vergleicht, ehe er sich zu einem Urtheil entschließt, habe
sich hier zu einem vorschnellen Abschluß verleiten lassen, bevor er des Gegen¬
standes ganz mächtig war.

Aus dem zweiten Bande haben wir noch eine Abhandlung über Haupten
(1831) und über Lord Burleigh (1832) nachzutragen; zwei Meisterstücke in der
plastischen Kunst der Charakteristik.

Im dritten Bande ist die Darstellung des Sir William Temple (1838)
das bedeutendste Werk. Die Kunst, uus die Begebenheiten und Sitten einer
fremden Zeit zu vergegenwärtigen und bei der unbedingtesten Vertiefung in den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/491>, abgerufen am 23.07.2024.