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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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des Worts Philosophie der Geschichte nennen könnte, noch immer nicht hinlänglich
gewürdigt hat.

Alle diese "Versuche" waren ursprünglich Recensionen in der Edinburgh
Review; aber so vielen Scharfsinn und Witz Macaulay bei seinem kritischen Ge¬
schäft anwendet, so ist dieses bei ihm doch immer nur die Nebensache, und er
macht es in der Einleitung ab, während er es als seine Hauptaufgabe festhält,
von dem Gegenstande, den der recensirte Autor behandelt, eine selbstständige
Darstellung zu geben, die mit der Ausführung des Verfassers gewöhnlich nur in
einem sehr allgemeinen Zusammenhang steht.

Die "Versuche" umfassen einen sehr bedeutenden Zeitraum. Der erste der¬
selben ist aus dem Jahre 1825, der letzte aus dem Jahre 1844. Man kann
allerdings in der Reihenfolge eine gewisse Entwickelung verfolgen; die ältern
"Versuche" sind jugendlich frischer, kühner, sie streifen häufig ans Poetische und
treten mit ihren freiheitlichen Ideen rücksichtsloser dem Bestehenden entgegen,
während jene ruhige Besonnenheit, die alle Seiten des Gegenstandes gleich¬
mäßig erwägt, bevor sie ihr entscheidendes Endurtheil fällt, sich in den späteren
Schriften immer harmonischer entfaltet. Aber der Fortschritt ist nur quantitativ,
nicht qualitativ. Wir finden bereits in den ersten "Versuchen" eine so besonnene
Objectivität, eine solche Entschiedenheit der Gesinnung und eine solche Überlegen¬
heit der geistigen Auffassung, daß wir vollständig den Verfasser der englischen
Geschichte darin wiedererkennen.

Gleich der erste Aufsatz, über Milton (1823), gehört zu den glänzendsten
der ganzen Sammlung. In der Regel zerfallen diese Abhandlungen, in denen
sich Macaulay mit einem Schriftsteller beschäftigt, in zwei ungleiche Theile; der¬
jenige Theil, der sich mit dem Leben des Schriftstellers, mit der Entwickelung
seines Charakters und seiner Maximen, mit seinem sittlichen Verhältniß zur Zeit
beschäftigt, ist in der Regel nach allen Seiten hin so scharf begründet, daß nicht
der geringste Raum zu einem Widerspruch übrigbleibt, während das Urtheil
über die literarischen Leistungen doch manche Einwendung zuläßt. In dieser
ersten Abhandlung ist das aber nicht der Fall. So interressant die Bemerkungen
sind, die er über die politische Stellung seines Helden macht, so überwiegt doch
entschieden die ästhetische Kritik. Er stellt nämlich eine ausführliche Parallele
zwischen Milton und Dante an, die zwar nicht vollständig ist, da sie sich mehr
ans die äußere" Formen der Poesie, als auf die innere religiöse Begründung der¬
selben bezieht, die aber in jedem Punkt äußerst lehrreich ist. Er gibt bei der
Gelegenheit eine Definition von Poesie, die recht gut neben andern Definitionen
ihre Stelle finden kann, er erklärt sie nämlich als die Kunst, Worte in einer
solchen Weise anzuwenden, daß sie eine Illusion auf die Einbildungskraft hervor¬
bringen; als die Kunst, dasselbe durch Worte zu erreichen, was der Maler durch
Farbe" erreicht, und er stützt sich mit dieser Definition auf Shakespeare:


des Worts Philosophie der Geschichte nennen könnte, noch immer nicht hinlänglich
gewürdigt hat.

Alle diese „Versuche" waren ursprünglich Recensionen in der Edinburgh
Review; aber so vielen Scharfsinn und Witz Macaulay bei seinem kritischen Ge¬
schäft anwendet, so ist dieses bei ihm doch immer nur die Nebensache, und er
macht es in der Einleitung ab, während er es als seine Hauptaufgabe festhält,
von dem Gegenstande, den der recensirte Autor behandelt, eine selbstständige
Darstellung zu geben, die mit der Ausführung des Verfassers gewöhnlich nur in
einem sehr allgemeinen Zusammenhang steht.

Die „Versuche" umfassen einen sehr bedeutenden Zeitraum. Der erste der¬
selben ist aus dem Jahre 1825, der letzte aus dem Jahre 1844. Man kann
allerdings in der Reihenfolge eine gewisse Entwickelung verfolgen; die ältern
„Versuche" sind jugendlich frischer, kühner, sie streifen häufig ans Poetische und
treten mit ihren freiheitlichen Ideen rücksichtsloser dem Bestehenden entgegen,
während jene ruhige Besonnenheit, die alle Seiten des Gegenstandes gleich¬
mäßig erwägt, bevor sie ihr entscheidendes Endurtheil fällt, sich in den späteren
Schriften immer harmonischer entfaltet. Aber der Fortschritt ist nur quantitativ,
nicht qualitativ. Wir finden bereits in den ersten „Versuchen" eine so besonnene
Objectivität, eine solche Entschiedenheit der Gesinnung und eine solche Überlegen¬
heit der geistigen Auffassung, daß wir vollständig den Verfasser der englischen
Geschichte darin wiedererkennen.

Gleich der erste Aufsatz, über Milton (1823), gehört zu den glänzendsten
der ganzen Sammlung. In der Regel zerfallen diese Abhandlungen, in denen
sich Macaulay mit einem Schriftsteller beschäftigt, in zwei ungleiche Theile; der¬
jenige Theil, der sich mit dem Leben des Schriftstellers, mit der Entwickelung
seines Charakters und seiner Maximen, mit seinem sittlichen Verhältniß zur Zeit
beschäftigt, ist in der Regel nach allen Seiten hin so scharf begründet, daß nicht
der geringste Raum zu einem Widerspruch übrigbleibt, während das Urtheil
über die literarischen Leistungen doch manche Einwendung zuläßt. In dieser
ersten Abhandlung ist das aber nicht der Fall. So interressant die Bemerkungen
sind, die er über die politische Stellung seines Helden macht, so überwiegt doch
entschieden die ästhetische Kritik. Er stellt nämlich eine ausführliche Parallele
zwischen Milton und Dante an, die zwar nicht vollständig ist, da sie sich mehr
ans die äußere» Formen der Poesie, als auf die innere religiöse Begründung der¬
selben bezieht, die aber in jedem Punkt äußerst lehrreich ist. Er gibt bei der
Gelegenheit eine Definition von Poesie, die recht gut neben andern Definitionen
ihre Stelle finden kann, er erklärt sie nämlich als die Kunst, Worte in einer
solchen Weise anzuwenden, daß sie eine Illusion auf die Einbildungskraft hervor¬
bringen; als die Kunst, dasselbe durch Worte zu erreichen, was der Maler durch
Farbe» erreicht, und er stützt sich mit dieser Definition auf Shakespeare:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/488>, abgerufen am 23.07.2024.