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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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das Todesurtheil gesprochen ist, besucht er ihn noch einmal im Gefängniß und
verspricht ihn freizulassen, wenn er ihm auf deu Knien abbitten wolle. Da der
König dieses Ansinnen mit Verachtung zurückweist, läßt er ihn hinrichten. --
Eine so abgeschmackte Auffassung der Geschichte war wol zu den Zeiten des alten
Gryphius möglich, aber sie ist unverzeihlich, nachdem die wirklichen historischen
Thatsachen in ganz Deutschland bekannt geworden sind. Sie ist aber auch drama¬
tisch ungeschickt, den Karl I., dieser falsche, tückische, rachsüchtige Despot, für den
wir uns eigentlich nur wegen seines van Dykschen Porträts interessiren, ist immer
noch eine viel poetischere Erscheinung, als dieser milde, schwächliche Theaterkönig,
der als ein willenloses Opfer der gemeinsten Intriguen fällt. Um eine drama¬
tische Spannung hineinzubringen, die durch die eigentlich politischen Actionen,
eben weil sie zu sehr abgeschwächt sind, nicht hervorgerufen werden kann, ist noch
eine Liebesgeschichte eingemischt. Einer der treusten von den Anhängern des
Königs, ist ein Graf Stafford. Dieser hat eine Tochter Florence, die in früherer
Zeit den König geliebt hat. Der König liebte sie wieder, aber die höhere Pflicht
seines Standes heischte seine Heirath mit einer Fürstin, und so gab er das Ver¬
hältniß auf. Florence, die ihren Geliebten nicht verheirathet sehen kann, hat
sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Der Vater wußte von der ganzen Begeben¬
heit nichts; er beweint sein Kind, als wäre es durch einen Zufall verunglückt,
bis ihm Cromwell, der zufällig die Sache erfahren hat, einen höchst entstellten
Bericht abstattet. Er erzählt ihm nämlich, der König habe seine Tochter verführt
und sie dann dem Tode preisgegeben. Darüber wird Stafford zur Rache auf¬
gereizt, er liefert den König an Cromwell aus und erbittet sich die Gunst, ihn
selber zu enthaupten. Aber es kommt nicht dazu, seine Tochter sucht ihn auf,
erklärt ihm, daß der König unschuldig sei, und so sieht er sich denn veranlaßt,
demselben zu Füßen zu fallen und ihn um Verzeihung zu bitten. So schreitet
denn Karl als edler Marterer zum Himmel, Cromwell wird den Furien der Hölle
überlassen. --

Das Schauspiel: der Ruf einer Frau, behandelt die bekannte Halsbandgeschichte.
Es ist in einem sehr ungebildeten Stil geschrieben und bereichert die Geschichte
mit einer ganzen Reihe neuer Erfindungen. --

Das Trauerspiel von Reimar folgt in Beziehung ans die Handlung getreu
dem Nibelungenlied und legt die Begebenheit mit einem wirklichen theatralischen
Geschick auseinander; aber der Dichter hat einen Ton gewählt, der ganz der
modernen Zeit angehört; seine Reflexionen und Motive sind durchaus dem
19. Jahrhundert entnommen. Dadurch wird eine falsche Stimmung in uns
hervorgerufen, und die finstern und schrecklichen Begebenheiten jener altdeutschen
Sage, die auf wilde, energische, durch die Cultur noch nicht abgeschwächte Cha¬
raktere gegründet sind, finden keinen Glauben bei uns. --

Von den beiden bürgerlichen Trauerspielen: "Ein Leben im Tode" und


das Todesurtheil gesprochen ist, besucht er ihn noch einmal im Gefängniß und
verspricht ihn freizulassen, wenn er ihm auf deu Knien abbitten wolle. Da der
König dieses Ansinnen mit Verachtung zurückweist, läßt er ihn hinrichten. —
Eine so abgeschmackte Auffassung der Geschichte war wol zu den Zeiten des alten
Gryphius möglich, aber sie ist unverzeihlich, nachdem die wirklichen historischen
Thatsachen in ganz Deutschland bekannt geworden sind. Sie ist aber auch drama¬
tisch ungeschickt, den Karl I., dieser falsche, tückische, rachsüchtige Despot, für den
wir uns eigentlich nur wegen seines van Dykschen Porträts interessiren, ist immer
noch eine viel poetischere Erscheinung, als dieser milde, schwächliche Theaterkönig,
der als ein willenloses Opfer der gemeinsten Intriguen fällt. Um eine drama¬
tische Spannung hineinzubringen, die durch die eigentlich politischen Actionen,
eben weil sie zu sehr abgeschwächt sind, nicht hervorgerufen werden kann, ist noch
eine Liebesgeschichte eingemischt. Einer der treusten von den Anhängern des
Königs, ist ein Graf Stafford. Dieser hat eine Tochter Florence, die in früherer
Zeit den König geliebt hat. Der König liebte sie wieder, aber die höhere Pflicht
seines Standes heischte seine Heirath mit einer Fürstin, und so gab er das Ver¬
hältniß auf. Florence, die ihren Geliebten nicht verheirathet sehen kann, hat
sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Der Vater wußte von der ganzen Begeben¬
heit nichts; er beweint sein Kind, als wäre es durch einen Zufall verunglückt,
bis ihm Cromwell, der zufällig die Sache erfahren hat, einen höchst entstellten
Bericht abstattet. Er erzählt ihm nämlich, der König habe seine Tochter verführt
und sie dann dem Tode preisgegeben. Darüber wird Stafford zur Rache auf¬
gereizt, er liefert den König an Cromwell aus und erbittet sich die Gunst, ihn
selber zu enthaupten. Aber es kommt nicht dazu, seine Tochter sucht ihn auf,
erklärt ihm, daß der König unschuldig sei, und so sieht er sich denn veranlaßt,
demselben zu Füßen zu fallen und ihn um Verzeihung zu bitten. So schreitet
denn Karl als edler Marterer zum Himmel, Cromwell wird den Furien der Hölle
überlassen. —

Das Schauspiel: der Ruf einer Frau, behandelt die bekannte Halsbandgeschichte.
Es ist in einem sehr ungebildeten Stil geschrieben und bereichert die Geschichte
mit einer ganzen Reihe neuer Erfindungen. —

Das Trauerspiel von Reimar folgt in Beziehung ans die Handlung getreu
dem Nibelungenlied und legt die Begebenheit mit einem wirklichen theatralischen
Geschick auseinander; aber der Dichter hat einen Ton gewählt, der ganz der
modernen Zeit angehört; seine Reflexionen und Motive sind durchaus dem
19. Jahrhundert entnommen. Dadurch wird eine falsche Stimmung in uns
hervorgerufen, und die finstern und schrecklichen Begebenheiten jener altdeutschen
Sage, die auf wilde, energische, durch die Cultur noch nicht abgeschwächte Cha¬
raktere gegründet sind, finden keinen Glauben bei uns. —

Von den beiden bürgerlichen Trauerspielen: „Ein Leben im Tode" und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/424>, abgerufen am 23.07.2024.