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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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hat sich in früheren dunkleren Zeiten, wo es galt, den herrschenden Vonirtheilcn
gegenüber ein neues, großes Princip festzustellen, unendlich mehr Genialität und
schöpferische Kraft entwickeln können; aber wenn wir blos auf deu Umfang des
exacten Wissens Rücksicht nehmen, so werden wir kaum übertreiben, wenn wir
behaupten, daß derselbe in den letzten beiden Menschenaltern ebensoviel gewonnen
hat, wie in den vielen Jahrtausenden der menschlichen Geschichte, die ihm vor¬
ausgehen. Früher halten die großen Naturforscher vielleicht ihr ganzes Leben
lang damit zu thun, den Nebel der Vorurtheile zu zerstreuen, die einen regel¬
mäßigen Fortschritt in der Erkenntniß unmöglich machten. Es gelang ihnen auch
nur in den seltensten Fallen, sich selber vollständig von diesen trüben Vorstellungen
zu befreien, die sie eingesogen hatten, gleich der Luft, welche sie einathmeten.
Heute sind solche Vorurtheile zwar noch in der Masse vorhanden, -- und wir
haben in dem letzten Büchlein ein lebendiges Beispiel davon angeführt, wie in
dem zunächst vorhergehenden ein Zeichen dafür, daß auch wirklich gebildete und
geistreiche Männer uoch immer von Zeit zu Zeit zu den widerlegten Theorien der
Vergangenheit zurückkehren und den Fortschritt der Wissenschaft aus deu Augen
setzen -- aber über das eigentliche Gebiet der Wissenschaft haben sie keine Macht
mehr. , Alles, was die Wissenschaft jetzt erkennt, ist unmittelbarer reiner Gewinn
und positive Thatsache. Nur daraus ist auch die ganz unglaubliche Schnelligkeit
zu erklären, mit der sie fortschreitet.

Außerdem hat alles, was die Naturwissenschaft erkennt, eine unmittelbare
Beziehung auf das praktische Leben. Jedes neue Gesetz, jede neu constatirte
Thatsache wird augenblicklich auf einen praktischen Zweck angewendet. In dem
einen Zweck der menschlichen Cultur, in der Herrschaft deö menschlichen Geistes
über die Natur, siud wir unendlich viel weiter gekommen. Vieles von dem, was
uns heutzutage als alltägliche Erscheinung so geläufig geworden ist, daß wir kaum
noch unsre Aufmerksamkeit darauf richten, würde noch im vorigen Jahrhundert
wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht geklungen haben. Bei der
Rieseuhaftigkeit dieser Fortschritte liegt der Irrthum nahe, den ganzen Zweck der
Bildung in dieser Ueberwindung der Natur durch deu Geist zu suchen, und die
andre Seite, die Erhebung und Läuterung des Gemüths, wenigstens in den
zweite" Nang zu verweisen. Es ist nicht zu leugnen, daß der Materialismus
in unsrer Zeit immer weiter um sich greift, und daß die ideellen Mächte, von
denen doch allein die höchsten, menschlichen Erregungen ausgehen, auf einen
immer engern Kreis eingeschränkt werden. Es ist ein Irrthum, wenn man
glaubt, daß die Naturwissenschaft bei der Unermeßlichkeit der Kräfte, mit denen
sie es zu thun hat, eine unmittelbare Wirkung auf das Gemüth ausüben könnte.
Das bekannte Schillersche Distichon, in welchem er den Astronomen zuruft, daß
im Raum das Erhabene nicht wohnt, ist zwar vielfach angegriffen worden, allein
es hat eigentlich vollkommen recht, wenn auch um nach einer Seite hin. Der


hat sich in früheren dunkleren Zeiten, wo es galt, den herrschenden Vonirtheilcn
gegenüber ein neues, großes Princip festzustellen, unendlich mehr Genialität und
schöpferische Kraft entwickeln können; aber wenn wir blos auf deu Umfang des
exacten Wissens Rücksicht nehmen, so werden wir kaum übertreiben, wenn wir
behaupten, daß derselbe in den letzten beiden Menschenaltern ebensoviel gewonnen
hat, wie in den vielen Jahrtausenden der menschlichen Geschichte, die ihm vor¬
ausgehen. Früher halten die großen Naturforscher vielleicht ihr ganzes Leben
lang damit zu thun, den Nebel der Vorurtheile zu zerstreuen, die einen regel¬
mäßigen Fortschritt in der Erkenntniß unmöglich machten. Es gelang ihnen auch
nur in den seltensten Fallen, sich selber vollständig von diesen trüben Vorstellungen
zu befreien, die sie eingesogen hatten, gleich der Luft, welche sie einathmeten.
Heute sind solche Vorurtheile zwar noch in der Masse vorhanden, — und wir
haben in dem letzten Büchlein ein lebendiges Beispiel davon angeführt, wie in
dem zunächst vorhergehenden ein Zeichen dafür, daß auch wirklich gebildete und
geistreiche Männer uoch immer von Zeit zu Zeit zu den widerlegten Theorien der
Vergangenheit zurückkehren und den Fortschritt der Wissenschaft aus deu Augen
setzen — aber über das eigentliche Gebiet der Wissenschaft haben sie keine Macht
mehr. , Alles, was die Wissenschaft jetzt erkennt, ist unmittelbarer reiner Gewinn
und positive Thatsache. Nur daraus ist auch die ganz unglaubliche Schnelligkeit
zu erklären, mit der sie fortschreitet.

Außerdem hat alles, was die Naturwissenschaft erkennt, eine unmittelbare
Beziehung auf das praktische Leben. Jedes neue Gesetz, jede neu constatirte
Thatsache wird augenblicklich auf einen praktischen Zweck angewendet. In dem
einen Zweck der menschlichen Cultur, in der Herrschaft deö menschlichen Geistes
über die Natur, siud wir unendlich viel weiter gekommen. Vieles von dem, was
uns heutzutage als alltägliche Erscheinung so geläufig geworden ist, daß wir kaum
noch unsre Aufmerksamkeit darauf richten, würde noch im vorigen Jahrhundert
wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht geklungen haben. Bei der
Rieseuhaftigkeit dieser Fortschritte liegt der Irrthum nahe, den ganzen Zweck der
Bildung in dieser Ueberwindung der Natur durch deu Geist zu suchen, und die
andre Seite, die Erhebung und Läuterung des Gemüths, wenigstens in den
zweite» Nang zu verweisen. Es ist nicht zu leugnen, daß der Materialismus
in unsrer Zeit immer weiter um sich greift, und daß die ideellen Mächte, von
denen doch allein die höchsten, menschlichen Erregungen ausgehen, auf einen
immer engern Kreis eingeschränkt werden. Es ist ein Irrthum, wenn man
glaubt, daß die Naturwissenschaft bei der Unermeßlichkeit der Kräfte, mit denen
sie es zu thun hat, eine unmittelbare Wirkung auf das Gemüth ausüben könnte.
Das bekannte Schillersche Distichon, in welchem er den Astronomen zuruft, daß
im Raum das Erhabene nicht wohnt, ist zwar vielfach angegriffen worden, allein
es hat eigentlich vollkommen recht, wenn auch um nach einer Seite hin. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/414>, abgerufen am 03.07.2024.