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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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unterrichten, daß kein wesentliches Moment des Urtheils fehlt, so wird ihr Urtheil
doch immer "nreiser sein, als das eines Mannes von gleicher Bildung, weil
man nnr über das treffend und scharf urtheilt, wobei man selber unmittelbar
thätig sein kann. Man muß inmitten einer Sache stehen, wenn man sie richtig
sehen will; die Frauen stehen aber ohne Ansnahme in politischen Fragen draußen,
und es kann auch nicht wohl anders sein. Darum finden wir bei Fanny Lewald,
wenn sie sich ans Politik einläßt, sehr viel Halbwahrcs und Mißverstandenes;
aber weil sie immer die Integrität ihres Gefühls gewahrt hat, gelingt es ihr
stets, ihr Urtheil zu corrigiren, und die weitere Entwickelung ihrer Schriften zeigt
immer eine wachsende Reife des Urtheils. Ihr neuester Roman, der uns vorliegt,
geht auch in dieser Beziehung weit über die "Jenny" und "Clementine",
und namentlich weit über die ,,Erinnerungen aus dem Jahre 1818" hinaus. Es
ist eine interessant angelegte Begebenheit, die zwar durch die allgemeinen Ver¬
wickelungen der Zeit von der Julirevolution bis zu der Februarrevolution bedingt,
aber doch nicht ganz von ihr absorbirt wird.

Zwei Fehler machen sich augenblicklich bemerklich. Der eine kommt bei un¬
sern litterarischen Epigonen sehr häufig vor; er besteht darin, daß man wirkliche
Begebenheiten und Charaktere copirt. Nun ist es zwar für jeden Dichter, na¬
mentlich für den Dramatiker und Novellisten, nothwendig, daß er viel sieht und
scharf beobachtet, aber er darf seine Beobachtungen nur als elementare Stoffe
benutzen, denen er> durch seiue Idealisirung eine ganz neue Form und Gestalt
geben muß. Sobald er lediglich copirt, wird er unwahr. Das klingt seltsam,
aber jede aufmerksame Beobachtung wird die Nichtigkeit dieses Ausspruchs be¬
währen. Ein wahrer poetischer Charakter muß aus einem Gusse sein, alle seine
Aeußerungen und Thätigkeiten müssen aus der nämlichen Quelle hervorgehen.
Sobald mau nun Züge aus dem wirklichen Leben einmischt, die doch nicht ganz
den Bedingungen dieser poetischen Schöpfung entsprechen, so tritt dadurch ein
widerstrebendes Element ein, das sich dem Organismus der Gestalt nicht fügt.
Wir machen die Dichterin auf einen ihrer Charaktere aufmerksam, auf den Doctor.
Hier hat ihr offenbar eine wirkliche, auch uns wohlbekannte Gestalt vorgeschwebt;
sie möge sich nun dieses Urbild vergegenwärtigen und sich fragen, ob die Heirath
mit Cornelie zu seinem Charakter stimmt. Umgekehrt sagen wir nun, daß die
Heirath mit Coruelie einmal vorausgesetzt, die frühern Charakterzüge unwahr und
unpassend sind. Jede Modellmalerei stört die Idealität des Gemäldes. -- Ein
zweiter Uebelstand ist die zu große Ausdehnung des Romans in Beziehung ans
die Zeit. Es ist allerdings erlaubt, und auch Walter Scott, das ewige Vorbild
für die Romandichtung, hat es mehrfach gethan, dem Umfang der Zeit, in der
der Roman spielt, eine ziemliche Ausdehnung zu geben. Aber nur unter einer
Bedingung: die für die Entwickelung des Hanptcharakters kritischen Perioden
müssen ausführlich dargestellt werden, und nur die Zeiten dürfen in den Hinter-


unterrichten, daß kein wesentliches Moment des Urtheils fehlt, so wird ihr Urtheil
doch immer »nreiser sein, als das eines Mannes von gleicher Bildung, weil
man nnr über das treffend und scharf urtheilt, wobei man selber unmittelbar
thätig sein kann. Man muß inmitten einer Sache stehen, wenn man sie richtig
sehen will; die Frauen stehen aber ohne Ansnahme in politischen Fragen draußen,
und es kann auch nicht wohl anders sein. Darum finden wir bei Fanny Lewald,
wenn sie sich ans Politik einläßt, sehr viel Halbwahrcs und Mißverstandenes;
aber weil sie immer die Integrität ihres Gefühls gewahrt hat, gelingt es ihr
stets, ihr Urtheil zu corrigiren, und die weitere Entwickelung ihrer Schriften zeigt
immer eine wachsende Reife des Urtheils. Ihr neuester Roman, der uns vorliegt,
geht auch in dieser Beziehung weit über die „Jenny" und „Clementine",
und namentlich weit über die ,,Erinnerungen aus dem Jahre 1818" hinaus. Es
ist eine interessant angelegte Begebenheit, die zwar durch die allgemeinen Ver¬
wickelungen der Zeit von der Julirevolution bis zu der Februarrevolution bedingt,
aber doch nicht ganz von ihr absorbirt wird.

Zwei Fehler machen sich augenblicklich bemerklich. Der eine kommt bei un¬
sern litterarischen Epigonen sehr häufig vor; er besteht darin, daß man wirkliche
Begebenheiten und Charaktere copirt. Nun ist es zwar für jeden Dichter, na¬
mentlich für den Dramatiker und Novellisten, nothwendig, daß er viel sieht und
scharf beobachtet, aber er darf seine Beobachtungen nur als elementare Stoffe
benutzen, denen er> durch seiue Idealisirung eine ganz neue Form und Gestalt
geben muß. Sobald er lediglich copirt, wird er unwahr. Das klingt seltsam,
aber jede aufmerksame Beobachtung wird die Nichtigkeit dieses Ausspruchs be¬
währen. Ein wahrer poetischer Charakter muß aus einem Gusse sein, alle seine
Aeußerungen und Thätigkeiten müssen aus der nämlichen Quelle hervorgehen.
Sobald mau nun Züge aus dem wirklichen Leben einmischt, die doch nicht ganz
den Bedingungen dieser poetischen Schöpfung entsprechen, so tritt dadurch ein
widerstrebendes Element ein, das sich dem Organismus der Gestalt nicht fügt.
Wir machen die Dichterin auf einen ihrer Charaktere aufmerksam, auf den Doctor.
Hier hat ihr offenbar eine wirkliche, auch uns wohlbekannte Gestalt vorgeschwebt;
sie möge sich nun dieses Urbild vergegenwärtigen und sich fragen, ob die Heirath
mit Cornelie zu seinem Charakter stimmt. Umgekehrt sagen wir nun, daß die
Heirath mit Coruelie einmal vorausgesetzt, die frühern Charakterzüge unwahr und
unpassend sind. Jede Modellmalerei stört die Idealität des Gemäldes. — Ein
zweiter Uebelstand ist die zu große Ausdehnung des Romans in Beziehung ans
die Zeit. Es ist allerdings erlaubt, und auch Walter Scott, das ewige Vorbild
für die Romandichtung, hat es mehrfach gethan, dem Umfang der Zeit, in der
der Roman spielt, eine ziemliche Ausdehnung zu geben. Aber nur unter einer
Bedingung: die für die Entwickelung des Hanptcharakters kritischen Perioden
müssen ausführlich dargestellt werden, und nur die Zeiten dürfen in den Hinter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/370>, abgerufen am 23.07.2024.