Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Franzosen von jeher Stümper gewesen sind, so ist es doch eine ganz unbe-
greifliche Verblendung, die Lebenskraft eines großen, mächtigen Volks lediglich in
seiner Fähigkeit für die innere Politik zu suchen. Solange die Franzosen die
erste Landmacht Europas sind, solange sie alle von einem nationalen Enthusias¬
mus bewegt werden, der in Augenblicken gemeinsamer Gefahr alle kleinen Zwistig-
keiten vergessen läßt, solange jenes Organisationstalent in ihnen lebt, das sich in
jede neue Lage rasch zu schicken, jede neue Lage zu beherrschen weiß, solange sie
endlich eine Literatur besitzen, die an Fvrmsinn, an Energie des Gefühls und mich
an Verstand sich wenigstens jeder andern Literatur ebenbürtig an die Seite stellen
kann: -- solange ist es gradezu lächerlich, von der Abgestorbenheit der fran¬
zösischen Nation zu reden. Es ist wahr, die Verfassung der Franzosen ist gegen¬
wärtig viel despotischer, als irgeud eine deutsche Verfassung, und die ganze Na¬
tion trägt die Mitschuld an diesem Verhängniß; aber trotzdem ist das individuelle
Leben in Frankreich immer noch viel freier, stolzer und elastischer, als in Deutsch¬
land, und die Macht Frankreichs ist noch viel größer, als die Macht sämmtlicher
deutschen Staate". Wir waren früher in einem lächerlichen Cultus des franzö-
sischen Wesens befangen, es wäre aber sehr thöricht, wen" wir jetzt in das ent¬
gegengesetzte Extrem verfallen und unsere Augen vor den Thatsachen verschließen
wollten.

Herr Diezel lebt noch immer in diesem Irrthum. Für ihn ist Frankreich eine
Null und bei der Entwickelung der europäischen Verhältnisse gar nicht in Rech¬
nung zu bringen. Ebenso überschätzt er noch immer die Macht Englands. Wenn
er doch nur die traurige Rolle überlegen möchte, die England unter Karl 1. und
Karl II. gespielt, und die es doch nicht verhindert hat, in beiden Fällen unmittel-
bar darauf die erste Macht Europas zu werden. Völker leben länger und können
mehr Mißgriffe und Fehler ertragen, als Individuen. Das gegenwärtige Ver¬
halten Englands in der türkischen Frage muß wol jeden Verehrer Englands
irre machen; denn es ist hier nicht von den zufälligen Mißgriffen eines einzelnen
Ministeriums die Rede. Mau denke an die gegenwärtige Lage Englands im
Innern. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber, die beinahe gleich sind, und
die gezeigt haben, daß sie nöthigenfalls auch ihre Principien über Bord werfen,
wen" sie dadurch die Herrschaft erlangen oder behaupte" können. Die eine be¬
wacht sehr aufmerksam alle Mißgriffe der andern, um sie augenblicklich stürzen und
sich an ihre Stelle setzen zu können; die regierende Partei ist "och dadurch ab¬
hängiger vom Vvlkswillen, daß sie steh im Parlament aus die Radicalen stützen
muß, die nur darum uiid ihr gehe", weil sie den Tones "och abgeneigter sind.
Trotz dieser eigenthümliche" Lage ist weder von Seiten der parlamentarische"
Gegner und der zweifelhaften parlamentarischen Verbündeten noch außerhalb des
Parlaments irgend ein ernstlicher Versuch gemacht worden, das Ministerium zu
stürze", dessen Politik doch leine" Zweifel mehr zuläßt, wenn man es in der


die Franzosen von jeher Stümper gewesen sind, so ist es doch eine ganz unbe-
greifliche Verblendung, die Lebenskraft eines großen, mächtigen Volks lediglich in
seiner Fähigkeit für die innere Politik zu suchen. Solange die Franzosen die
erste Landmacht Europas sind, solange sie alle von einem nationalen Enthusias¬
mus bewegt werden, der in Augenblicken gemeinsamer Gefahr alle kleinen Zwistig-
keiten vergessen läßt, solange jenes Organisationstalent in ihnen lebt, das sich in
jede neue Lage rasch zu schicken, jede neue Lage zu beherrschen weiß, solange sie
endlich eine Literatur besitzen, die an Fvrmsinn, an Energie des Gefühls und mich
an Verstand sich wenigstens jeder andern Literatur ebenbürtig an die Seite stellen
kann: — solange ist es gradezu lächerlich, von der Abgestorbenheit der fran¬
zösischen Nation zu reden. Es ist wahr, die Verfassung der Franzosen ist gegen¬
wärtig viel despotischer, als irgeud eine deutsche Verfassung, und die ganze Na¬
tion trägt die Mitschuld an diesem Verhängniß; aber trotzdem ist das individuelle
Leben in Frankreich immer noch viel freier, stolzer und elastischer, als in Deutsch¬
land, und die Macht Frankreichs ist noch viel größer, als die Macht sämmtlicher
deutschen Staate». Wir waren früher in einem lächerlichen Cultus des franzö-
sischen Wesens befangen, es wäre aber sehr thöricht, wen» wir jetzt in das ent¬
gegengesetzte Extrem verfallen und unsere Augen vor den Thatsachen verschließen
wollten.

Herr Diezel lebt noch immer in diesem Irrthum. Für ihn ist Frankreich eine
Null und bei der Entwickelung der europäischen Verhältnisse gar nicht in Rech¬
nung zu bringen. Ebenso überschätzt er noch immer die Macht Englands. Wenn
er doch nur die traurige Rolle überlegen möchte, die England unter Karl 1. und
Karl II. gespielt, und die es doch nicht verhindert hat, in beiden Fällen unmittel-
bar darauf die erste Macht Europas zu werden. Völker leben länger und können
mehr Mißgriffe und Fehler ertragen, als Individuen. Das gegenwärtige Ver¬
halten Englands in der türkischen Frage muß wol jeden Verehrer Englands
irre machen; denn es ist hier nicht von den zufälligen Mißgriffen eines einzelnen
Ministeriums die Rede. Mau denke an die gegenwärtige Lage Englands im
Innern. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber, die beinahe gleich sind, und
die gezeigt haben, daß sie nöthigenfalls auch ihre Principien über Bord werfen,
wen» sie dadurch die Herrschaft erlangen oder behaupte» können. Die eine be¬
wacht sehr aufmerksam alle Mißgriffe der andern, um sie augenblicklich stürzen und
sich an ihre Stelle setzen zu können; die regierende Partei ist »och dadurch ab¬
hängiger vom Vvlkswillen, daß sie steh im Parlament aus die Radicalen stützen
muß, die nur darum uiid ihr gehe», weil sie den Tones »och abgeneigter sind.
Trotz dieser eigenthümliche» Lage ist weder von Seiten der parlamentarische»
Gegner und der zweifelhaften parlamentarischen Verbündeten noch außerhalb des
Parlaments irgend ein ernstlicher Versuch gemacht worden, das Ministerium zu
stürze», dessen Politik doch leine» Zweifel mehr zuläßt, wenn man es in der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96531"/>
          <p xml:id="ID_1250" prev="#ID_1249"> die Franzosen von jeher Stümper gewesen sind, so ist es doch eine ganz unbe-<lb/>
greifliche Verblendung, die Lebenskraft eines großen, mächtigen Volks lediglich in<lb/>
seiner Fähigkeit für die innere Politik zu suchen. Solange die Franzosen die<lb/>
erste Landmacht Europas sind, solange sie alle von einem nationalen Enthusias¬<lb/>
mus bewegt werden, der in Augenblicken gemeinsamer Gefahr alle kleinen Zwistig-<lb/>
keiten vergessen läßt, solange jenes Organisationstalent in ihnen lebt, das sich in<lb/>
jede neue Lage rasch zu schicken, jede neue Lage zu beherrschen weiß, solange sie<lb/>
endlich eine Literatur besitzen, die an Fvrmsinn, an Energie des Gefühls und mich<lb/>
an Verstand sich wenigstens jeder andern Literatur ebenbürtig an die Seite stellen<lb/>
kann: &#x2014; solange ist es gradezu lächerlich, von der Abgestorbenheit der fran¬<lb/>
zösischen Nation zu reden. Es ist wahr, die Verfassung der Franzosen ist gegen¬<lb/>
wärtig viel despotischer, als irgeud eine deutsche Verfassung, und die ganze Na¬<lb/>
tion trägt die Mitschuld an diesem Verhängniß; aber trotzdem ist das individuelle<lb/>
Leben in Frankreich immer noch viel freier, stolzer und elastischer, als in Deutsch¬<lb/>
land, und die Macht Frankreichs ist noch viel größer, als die Macht sämmtlicher<lb/>
deutschen Staate». Wir waren früher in einem lächerlichen Cultus des franzö-<lb/>
sischen Wesens befangen, es wäre aber sehr thöricht, wen» wir jetzt in das ent¬<lb/>
gegengesetzte Extrem verfallen und unsere Augen vor den Thatsachen verschließen<lb/>
wollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1251" next="#ID_1252"> Herr Diezel lebt noch immer in diesem Irrthum. Für ihn ist Frankreich eine<lb/>
Null und bei der Entwickelung der europäischen Verhältnisse gar nicht in Rech¬<lb/>
nung zu bringen. Ebenso überschätzt er noch immer die Macht Englands. Wenn<lb/>
er doch nur die traurige Rolle überlegen möchte, die England unter Karl 1. und<lb/>
Karl II. gespielt, und die es doch nicht verhindert hat, in beiden Fällen unmittel-<lb/>
bar darauf die erste Macht Europas zu werden. Völker leben länger und können<lb/>
mehr Mißgriffe und Fehler ertragen, als Individuen. Das gegenwärtige Ver¬<lb/>
halten Englands in der türkischen Frage muß wol jeden Verehrer Englands<lb/>
irre machen; denn es ist hier nicht von den zufälligen Mißgriffen eines einzelnen<lb/>
Ministeriums die Rede. Mau denke an die gegenwärtige Lage Englands im<lb/>
Innern. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber, die beinahe gleich sind, und<lb/>
die gezeigt haben, daß sie nöthigenfalls auch ihre Principien über Bord werfen,<lb/>
wen» sie dadurch die Herrschaft erlangen oder behaupte» können. Die eine be¬<lb/>
wacht sehr aufmerksam alle Mißgriffe der andern, um sie augenblicklich stürzen und<lb/>
sich an ihre Stelle setzen zu können; die regierende Partei ist »och dadurch ab¬<lb/>
hängiger vom Vvlkswillen, daß sie steh im Parlament aus die Radicalen stützen<lb/>
muß, die nur darum uiid ihr gehe», weil sie den Tones »och abgeneigter sind.<lb/>
Trotz dieser eigenthümliche» Lage ist weder von Seiten der parlamentarische»<lb/>
Gegner und der zweifelhaften parlamentarischen Verbündeten noch außerhalb des<lb/>
Parlaments irgend ein ernstlicher Versuch gemacht worden, das Ministerium zu<lb/>
stürze», dessen Politik doch leine» Zweifel mehr zuläßt, wenn man es in der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] die Franzosen von jeher Stümper gewesen sind, so ist es doch eine ganz unbe- greifliche Verblendung, die Lebenskraft eines großen, mächtigen Volks lediglich in seiner Fähigkeit für die innere Politik zu suchen. Solange die Franzosen die erste Landmacht Europas sind, solange sie alle von einem nationalen Enthusias¬ mus bewegt werden, der in Augenblicken gemeinsamer Gefahr alle kleinen Zwistig- keiten vergessen läßt, solange jenes Organisationstalent in ihnen lebt, das sich in jede neue Lage rasch zu schicken, jede neue Lage zu beherrschen weiß, solange sie endlich eine Literatur besitzen, die an Fvrmsinn, an Energie des Gefühls und mich an Verstand sich wenigstens jeder andern Literatur ebenbürtig an die Seite stellen kann: — solange ist es gradezu lächerlich, von der Abgestorbenheit der fran¬ zösischen Nation zu reden. Es ist wahr, die Verfassung der Franzosen ist gegen¬ wärtig viel despotischer, als irgeud eine deutsche Verfassung, und die ganze Na¬ tion trägt die Mitschuld an diesem Verhängniß; aber trotzdem ist das individuelle Leben in Frankreich immer noch viel freier, stolzer und elastischer, als in Deutsch¬ land, und die Macht Frankreichs ist noch viel größer, als die Macht sämmtlicher deutschen Staate». Wir waren früher in einem lächerlichen Cultus des franzö- sischen Wesens befangen, es wäre aber sehr thöricht, wen» wir jetzt in das ent¬ gegengesetzte Extrem verfallen und unsere Augen vor den Thatsachen verschließen wollten. Herr Diezel lebt noch immer in diesem Irrthum. Für ihn ist Frankreich eine Null und bei der Entwickelung der europäischen Verhältnisse gar nicht in Rech¬ nung zu bringen. Ebenso überschätzt er noch immer die Macht Englands. Wenn er doch nur die traurige Rolle überlegen möchte, die England unter Karl 1. und Karl II. gespielt, und die es doch nicht verhindert hat, in beiden Fällen unmittel- bar darauf die erste Macht Europas zu werden. Völker leben länger und können mehr Mißgriffe und Fehler ertragen, als Individuen. Das gegenwärtige Ver¬ halten Englands in der türkischen Frage muß wol jeden Verehrer Englands irre machen; denn es ist hier nicht von den zufälligen Mißgriffen eines einzelnen Ministeriums die Rede. Mau denke an die gegenwärtige Lage Englands im Innern. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber, die beinahe gleich sind, und die gezeigt haben, daß sie nöthigenfalls auch ihre Principien über Bord werfen, wen» sie dadurch die Herrschaft erlangen oder behaupte» können. Die eine be¬ wacht sehr aufmerksam alle Mißgriffe der andern, um sie augenblicklich stürzen und sich an ihre Stelle setzen zu können; die regierende Partei ist »och dadurch ab¬ hängiger vom Vvlkswillen, daß sie steh im Parlament aus die Radicalen stützen muß, die nur darum uiid ihr gehe», weil sie den Tones »och abgeneigter sind. Trotz dieser eigenthümliche» Lage ist weder von Seiten der parlamentarische» Gegner und der zweifelhaften parlamentarischen Verbündeten noch außerhalb des Parlaments irgend ein ernstlicher Versuch gemacht worden, das Ministerium zu stürze», dessen Politik doch leine» Zweifel mehr zuläßt, wenn man es in der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/356>, abgerufen am 03.07.2024.