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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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sich in Phrasen bewegt, die viel religiöser klingen, als die Keine'schen, nicht für
christlich, denn es hat jenen Kern der.christlichen Lehre aufgegeben.

Wir wollen auf die Hauptbestrebuugen des 19. Jahrhunderts, das Christen¬
thum durch eine neue Religion zu ersetzen, hier noch einen flüchtigen Blick werfen.
Die erste ging von der romantischen Schule aus und war der ausgesprochene
Eklekticismus. Schleiermacher (der Schleiermacher von 1790, nicht der spätere)
und seine Freunde wollten aus sämmtlichen Religionssystemen und Philosophien
das Passende zusammensuchen und daraus einen mythologischen Inhalt gewinne",
der zu gleicher Zeit für die künstlerischen Versuche eine passende Grundlage und
für das religiöse Gemüth eine vielseitige universelle Entfaltung verhieß. Das
Christenthum wurde von diesen romantischen Versuchen keineswegs ausgeschlossen,
aber es wurde nur als ein einzelnes Moment zugelassen, in keiner großem Wür¬
digkeit, als etwa die indische Religion und die nordischen Heldensagen. Bekannt¬
lich haben diese Versuche diejenigen Romantiker, die ernsthaft bei der Sache
blieben, in die entgegengesetzte Bahn geführt, nämlich in den Schoß des histori,
schen Katholicismus, aber einzelne Nachklänge von dieser Knnstreligion finden sich
auch noch in unsern Tagen. So hat z. B. Richard Wagner eine auffallende
Familienverwandtschaft mit jenen alten Romantikern. Uebrigens wollen wir diesen
Religionsversnchen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Es ist unzweifel¬
haft ein großer Nachtheil für die moderne Kunst, im Gegensatz zur antiken und
zur mittelalterlichen Kunst, daß ihr ein bestimmter heiliger Stoff, eine traditionelle
Symbolik fehlt, innerhalb deren sie sich mit einer gewissen Freiheit, aber doch
zugleich mit gesetzlicher Nothwendigkeit bewegen könnte. Allein die Erkenntniß
dieses Mangels trägt noch nichts dazu bei, ihn zu beseitigen, denn eine Religion
wird nicht gemacht, sondern empfangen.

Ganz anders verhält es sich mit einer zweiten Religion, die seit den 30er
Jahren von Frankreich ans verkündet wurde. Hier ging man nicht von künst¬
lerischen Tendenzen, nicht von den ästhetischen Bedürfnissen feingestimmter Seelen
aus, sondern von den grob materiellen Bedürfnissen des Volks. Man predigte
das Recht der Sinnlichkeit gegen die ascetischen Anforderungen des Christenthums
und das allgemeine Recht Aller auf irdischen Genuß im Gegensatz gegen die
Verheißungen des Himmelreichs. Dieser religiöse Versuch ist viel ernster zu nehmen,
als der romantische, denn er wetteifert an ""bestimmten, allgemeinen Versprechungen
mit jeder beliebigen Offenbarung, er ist in seiner Kritik sehr handgreiflich und
läßt sich in der Masse des Volkes leicht zum Fanatismus steigern. Die Religion
des Socialismus, wenn man diese Bezeichnung zulassen will, ist der einzige starke
volkstümliche' Gegensatz gegen das Christenthum, und um so eingreifender in die
allgemeine Bildung, da er mit der allgemeinen materialistischen Bildung der Zeit,
mit den Naturwissenschaften, n. s. w. Hand in Hand geht. Eine so wilde,
unerhörte Erscheinung, wie das Mormonenthum, ist nicht gering anzuschlagen.


Grenzbote", Hi. -I8S3.

sich in Phrasen bewegt, die viel religiöser klingen, als die Keine'schen, nicht für
christlich, denn es hat jenen Kern der.christlichen Lehre aufgegeben.

Wir wollen auf die Hauptbestrebuugen des 19. Jahrhunderts, das Christen¬
thum durch eine neue Religion zu ersetzen, hier noch einen flüchtigen Blick werfen.
Die erste ging von der romantischen Schule aus und war der ausgesprochene
Eklekticismus. Schleiermacher (der Schleiermacher von 1790, nicht der spätere)
und seine Freunde wollten aus sämmtlichen Religionssystemen und Philosophien
das Passende zusammensuchen und daraus einen mythologischen Inhalt gewinne»,
der zu gleicher Zeit für die künstlerischen Versuche eine passende Grundlage und
für das religiöse Gemüth eine vielseitige universelle Entfaltung verhieß. Das
Christenthum wurde von diesen romantischen Versuchen keineswegs ausgeschlossen,
aber es wurde nur als ein einzelnes Moment zugelassen, in keiner großem Wür¬
digkeit, als etwa die indische Religion und die nordischen Heldensagen. Bekannt¬
lich haben diese Versuche diejenigen Romantiker, die ernsthaft bei der Sache
blieben, in die entgegengesetzte Bahn geführt, nämlich in den Schoß des histori,
schen Katholicismus, aber einzelne Nachklänge von dieser Knnstreligion finden sich
auch noch in unsern Tagen. So hat z. B. Richard Wagner eine auffallende
Familienverwandtschaft mit jenen alten Romantikern. Uebrigens wollen wir diesen
Religionsversnchen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Es ist unzweifel¬
haft ein großer Nachtheil für die moderne Kunst, im Gegensatz zur antiken und
zur mittelalterlichen Kunst, daß ihr ein bestimmter heiliger Stoff, eine traditionelle
Symbolik fehlt, innerhalb deren sie sich mit einer gewissen Freiheit, aber doch
zugleich mit gesetzlicher Nothwendigkeit bewegen könnte. Allein die Erkenntniß
dieses Mangels trägt noch nichts dazu bei, ihn zu beseitigen, denn eine Religion
wird nicht gemacht, sondern empfangen.

Ganz anders verhält es sich mit einer zweiten Religion, die seit den 30er
Jahren von Frankreich ans verkündet wurde. Hier ging man nicht von künst¬
lerischen Tendenzen, nicht von den ästhetischen Bedürfnissen feingestimmter Seelen
aus, sondern von den grob materiellen Bedürfnissen des Volks. Man predigte
das Recht der Sinnlichkeit gegen die ascetischen Anforderungen des Christenthums
und das allgemeine Recht Aller auf irdischen Genuß im Gegensatz gegen die
Verheißungen des Himmelreichs. Dieser religiöse Versuch ist viel ernster zu nehmen,
als der romantische, denn er wetteifert an »»bestimmten, allgemeinen Versprechungen
mit jeder beliebigen Offenbarung, er ist in seiner Kritik sehr handgreiflich und
läßt sich in der Masse des Volkes leicht zum Fanatismus steigern. Die Religion
des Socialismus, wenn man diese Bezeichnung zulassen will, ist der einzige starke
volkstümliche' Gegensatz gegen das Christenthum, und um so eingreifender in die
allgemeine Bildung, da er mit der allgemeinen materialistischen Bildung der Zeit,
mit den Naturwissenschaften, n. s. w. Hand in Hand geht. Eine so wilde,
unerhörte Erscheinung, wie das Mormonenthum, ist nicht gering anzuschlagen.


Grenzbote», Hi. -I8S3.
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[0351] sich in Phrasen bewegt, die viel religiöser klingen, als die Keine'schen, nicht für christlich, denn es hat jenen Kern der.christlichen Lehre aufgegeben. Wir wollen auf die Hauptbestrebuugen des 19. Jahrhunderts, das Christen¬ thum durch eine neue Religion zu ersetzen, hier noch einen flüchtigen Blick werfen. Die erste ging von der romantischen Schule aus und war der ausgesprochene Eklekticismus. Schleiermacher (der Schleiermacher von 1790, nicht der spätere) und seine Freunde wollten aus sämmtlichen Religionssystemen und Philosophien das Passende zusammensuchen und daraus einen mythologischen Inhalt gewinne», der zu gleicher Zeit für die künstlerischen Versuche eine passende Grundlage und für das religiöse Gemüth eine vielseitige universelle Entfaltung verhieß. Das Christenthum wurde von diesen romantischen Versuchen keineswegs ausgeschlossen, aber es wurde nur als ein einzelnes Moment zugelassen, in keiner großem Wür¬ digkeit, als etwa die indische Religion und die nordischen Heldensagen. Bekannt¬ lich haben diese Versuche diejenigen Romantiker, die ernsthaft bei der Sache blieben, in die entgegengesetzte Bahn geführt, nämlich in den Schoß des histori, schen Katholicismus, aber einzelne Nachklänge von dieser Knnstreligion finden sich auch noch in unsern Tagen. So hat z. B. Richard Wagner eine auffallende Familienverwandtschaft mit jenen alten Romantikern. Uebrigens wollen wir diesen Religionsversnchen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Es ist unzweifel¬ haft ein großer Nachtheil für die moderne Kunst, im Gegensatz zur antiken und zur mittelalterlichen Kunst, daß ihr ein bestimmter heiliger Stoff, eine traditionelle Symbolik fehlt, innerhalb deren sie sich mit einer gewissen Freiheit, aber doch zugleich mit gesetzlicher Nothwendigkeit bewegen könnte. Allein die Erkenntniß dieses Mangels trägt noch nichts dazu bei, ihn zu beseitigen, denn eine Religion wird nicht gemacht, sondern empfangen. Ganz anders verhält es sich mit einer zweiten Religion, die seit den 30er Jahren von Frankreich ans verkündet wurde. Hier ging man nicht von künst¬ lerischen Tendenzen, nicht von den ästhetischen Bedürfnissen feingestimmter Seelen aus, sondern von den grob materiellen Bedürfnissen des Volks. Man predigte das Recht der Sinnlichkeit gegen die ascetischen Anforderungen des Christenthums und das allgemeine Recht Aller auf irdischen Genuß im Gegensatz gegen die Verheißungen des Himmelreichs. Dieser religiöse Versuch ist viel ernster zu nehmen, als der romantische, denn er wetteifert an »»bestimmten, allgemeinen Versprechungen mit jeder beliebigen Offenbarung, er ist in seiner Kritik sehr handgreiflich und läßt sich in der Masse des Volkes leicht zum Fanatismus steigern. Die Religion des Socialismus, wenn man diese Bezeichnung zulassen will, ist der einzige starke volkstümliche' Gegensatz gegen das Christenthum, und um so eingreifender in die allgemeine Bildung, da er mit der allgemeinen materialistischen Bildung der Zeit, mit den Naturwissenschaften, n. s. w. Hand in Hand geht. Eine so wilde, unerhörte Erscheinung, wie das Mormonenthum, ist nicht gering anzuschlagen. Grenzbote», Hi. -I8S3.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/351>, abgerufen am 23.07.2024.