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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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materiellen Macht überhaupt und insbesondere ihrer Gewalt über die Geister an¬
derer, ein beständiges Verwechseln persönlicher und allgemeiner Interessen in sich
und anderen, eine entschiedene Vorliebe für geschmeidige Charaktere, die unter
der Maske der Ergebenheit ihre selbstsüchtigen Interessen fördern, alles dies finden
wir bei der Aushebung des Edicts von Nantes zusamiueuwirkeu. Häufig hört
mau es zwar als eiuo politische Nothwendigkeit entschuldigen, veranlaßt durch die
Ausnahmestellung der Protestanten im Staate. Aber diese hatten seit Richelieu
gänzlich aufgehört, denn der Fall von Rochelle machte dem Staate im Staate, den
die französischen Hugenotten bildeten, vollständig ein Ende. Eine Ausnahme-
stellung, wenn auch nicht in politischer Hinsicht, hatten sich allerdings die Pro¬
testanten erobert: sie waren der wohlhabendste und thätigste.Theil der Bewohner
und standen überall an der Spitze des geistigen und materiellen Fortschritts.
Diese merkwürdige Erscheinung wiederholt sich überall, wo Protestanten und Ka-,
tholike" nebeneinander leben, ja sie scheidet sogar seit der Reformation die Staaten
Europas in zwei Hälften, deren eine geistig und materiell schneller oder langsamer
dem Verfall entgegenreist, während die andere täglich mehr an Macht und Blute
zunimmt. Ans den ersten Blick sollte man allerdings nicht glauben, daß kirchliche
Dogmen irgend welchen Einfluß auf die materielle Entwickelung eines Volkes haben
könnten, oder daß die Auffassung eines Mannes von der Bedeutung des Abend¬
mahls mit dem mehr oder minder eifrige" und glücklichen Betriebe seines Tuchweb-
oder Färbereigeschäfts etwas gemein haben könnte, aber es ist doch der Fall. Es
setzt schon Selbstständigkeit und Kraft des Charakters und Lebendigkeit des Geistes
voraus, sich der neuen Lehre anzuschließen, und der Geist, der von kirchlichen
Fesseln befreit war, fühlte seine Kraft bald "ut versuchte sich auch auf andern
Gebieten. Eine ähnliche Erscheinung zeigt sich überall, wo man der geistigen
Entwickelung nur gewisse Bahnen frei lassen will, und die Regierungen, die heut¬
zutage deu Geister" uur diejenige Nahrung zukommen lassen wollen, die unmittel¬
bar zur Förderung des materiellen Fortschritts dient, ihn aber in jeder andern
Hinsicht auf Fastenkost beschränken, werden gewiß nicht erreichen was sie erzielen:
eine große materielle Blüte der Nation ohne politische Freiheit. Eine andere
Ursache des rascheren Gedeihens protestantischer Gemeinden war ihre unleugbar
größere Sittenreinheit, denn da bei dem Protestanten die Tugend selbst und nicht
der Ablaß des Priesters die Bedingung der Seligkeit ist, so ist es natürlich, daß
er das Leben von einer viel ernstem Seite auffaßte. Auch als verfolgte Minder¬
zahl mußten sie streug auf gute" Leumund halten, und so finden wir sie überall
mäßig, streng rechtlich, fleißig und aufgeweckten Geistes. Da sie in Frankreich
nicht nur vom Hofe, sondern allmälig auch von alle" öffentliche" Aemter" auSgc-
schlosse" wurden, so war dies el" Grund mehr für sie, ihre Energie und ihre
Bildung auf die Betreibung des Handels und der Industrie zu wenden. Herr
Weiß hebt noch eine andere Ursache hervor, die in andern Ländern unsers Wissens


materiellen Macht überhaupt und insbesondere ihrer Gewalt über die Geister an¬
derer, ein beständiges Verwechseln persönlicher und allgemeiner Interessen in sich
und anderen, eine entschiedene Vorliebe für geschmeidige Charaktere, die unter
der Maske der Ergebenheit ihre selbstsüchtigen Interessen fördern, alles dies finden
wir bei der Aushebung des Edicts von Nantes zusamiueuwirkeu. Häufig hört
mau es zwar als eiuo politische Nothwendigkeit entschuldigen, veranlaßt durch die
Ausnahmestellung der Protestanten im Staate. Aber diese hatten seit Richelieu
gänzlich aufgehört, denn der Fall von Rochelle machte dem Staate im Staate, den
die französischen Hugenotten bildeten, vollständig ein Ende. Eine Ausnahme-
stellung, wenn auch nicht in politischer Hinsicht, hatten sich allerdings die Pro¬
testanten erobert: sie waren der wohlhabendste und thätigste.Theil der Bewohner
und standen überall an der Spitze des geistigen und materiellen Fortschritts.
Diese merkwürdige Erscheinung wiederholt sich überall, wo Protestanten und Ka-,
tholike» nebeneinander leben, ja sie scheidet sogar seit der Reformation die Staaten
Europas in zwei Hälften, deren eine geistig und materiell schneller oder langsamer
dem Verfall entgegenreist, während die andere täglich mehr an Macht und Blute
zunimmt. Ans den ersten Blick sollte man allerdings nicht glauben, daß kirchliche
Dogmen irgend welchen Einfluß auf die materielle Entwickelung eines Volkes haben
könnten, oder daß die Auffassung eines Mannes von der Bedeutung des Abend¬
mahls mit dem mehr oder minder eifrige» und glücklichen Betriebe seines Tuchweb-
oder Färbereigeschäfts etwas gemein haben könnte, aber es ist doch der Fall. Es
setzt schon Selbstständigkeit und Kraft des Charakters und Lebendigkeit des Geistes
voraus, sich der neuen Lehre anzuschließen, und der Geist, der von kirchlichen
Fesseln befreit war, fühlte seine Kraft bald »ut versuchte sich auch auf andern
Gebieten. Eine ähnliche Erscheinung zeigt sich überall, wo man der geistigen
Entwickelung nur gewisse Bahnen frei lassen will, und die Regierungen, die heut¬
zutage deu Geister» uur diejenige Nahrung zukommen lassen wollen, die unmittel¬
bar zur Förderung des materiellen Fortschritts dient, ihn aber in jeder andern
Hinsicht auf Fastenkost beschränken, werden gewiß nicht erreichen was sie erzielen:
eine große materielle Blüte der Nation ohne politische Freiheit. Eine andere
Ursache des rascheren Gedeihens protestantischer Gemeinden war ihre unleugbar
größere Sittenreinheit, denn da bei dem Protestanten die Tugend selbst und nicht
der Ablaß des Priesters die Bedingung der Seligkeit ist, so ist es natürlich, daß
er das Leben von einer viel ernstem Seite auffaßte. Auch als verfolgte Minder¬
zahl mußten sie streug auf gute» Leumund halten, und so finden wir sie überall
mäßig, streng rechtlich, fleißig und aufgeweckten Geistes. Da sie in Frankreich
nicht nur vom Hofe, sondern allmälig auch von alle» öffentliche» Aemter» auSgc-
schlosse» wurden, so war dies el» Grund mehr für sie, ihre Energie und ihre
Bildung auf die Betreibung des Handels und der Industrie zu wenden. Herr
Weiß hebt noch eine andere Ursache hervor, die in andern Ländern unsers Wissens


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[0317] materiellen Macht überhaupt und insbesondere ihrer Gewalt über die Geister an¬ derer, ein beständiges Verwechseln persönlicher und allgemeiner Interessen in sich und anderen, eine entschiedene Vorliebe für geschmeidige Charaktere, die unter der Maske der Ergebenheit ihre selbstsüchtigen Interessen fördern, alles dies finden wir bei der Aushebung des Edicts von Nantes zusamiueuwirkeu. Häufig hört mau es zwar als eiuo politische Nothwendigkeit entschuldigen, veranlaßt durch die Ausnahmestellung der Protestanten im Staate. Aber diese hatten seit Richelieu gänzlich aufgehört, denn der Fall von Rochelle machte dem Staate im Staate, den die französischen Hugenotten bildeten, vollständig ein Ende. Eine Ausnahme- stellung, wenn auch nicht in politischer Hinsicht, hatten sich allerdings die Pro¬ testanten erobert: sie waren der wohlhabendste und thätigste.Theil der Bewohner und standen überall an der Spitze des geistigen und materiellen Fortschritts. Diese merkwürdige Erscheinung wiederholt sich überall, wo Protestanten und Ka-, tholike» nebeneinander leben, ja sie scheidet sogar seit der Reformation die Staaten Europas in zwei Hälften, deren eine geistig und materiell schneller oder langsamer dem Verfall entgegenreist, während die andere täglich mehr an Macht und Blute zunimmt. Ans den ersten Blick sollte man allerdings nicht glauben, daß kirchliche Dogmen irgend welchen Einfluß auf die materielle Entwickelung eines Volkes haben könnten, oder daß die Auffassung eines Mannes von der Bedeutung des Abend¬ mahls mit dem mehr oder minder eifrige» und glücklichen Betriebe seines Tuchweb- oder Färbereigeschäfts etwas gemein haben könnte, aber es ist doch der Fall. Es setzt schon Selbstständigkeit und Kraft des Charakters und Lebendigkeit des Geistes voraus, sich der neuen Lehre anzuschließen, und der Geist, der von kirchlichen Fesseln befreit war, fühlte seine Kraft bald »ut versuchte sich auch auf andern Gebieten. Eine ähnliche Erscheinung zeigt sich überall, wo man der geistigen Entwickelung nur gewisse Bahnen frei lassen will, und die Regierungen, die heut¬ zutage deu Geister» uur diejenige Nahrung zukommen lassen wollen, die unmittel¬ bar zur Förderung des materiellen Fortschritts dient, ihn aber in jeder andern Hinsicht auf Fastenkost beschränken, werden gewiß nicht erreichen was sie erzielen: eine große materielle Blüte der Nation ohne politische Freiheit. Eine andere Ursache des rascheren Gedeihens protestantischer Gemeinden war ihre unleugbar größere Sittenreinheit, denn da bei dem Protestanten die Tugend selbst und nicht der Ablaß des Priesters die Bedingung der Seligkeit ist, so ist es natürlich, daß er das Leben von einer viel ernstem Seite auffaßte. Auch als verfolgte Minder¬ zahl mußten sie streug auf gute» Leumund halten, und so finden wir sie überall mäßig, streng rechtlich, fleißig und aufgeweckten Geistes. Da sie in Frankreich nicht nur vom Hofe, sondern allmälig auch von alle» öffentliche» Aemter» auSgc- schlosse» wurden, so war dies el» Grund mehr für sie, ihre Energie und ihre Bildung auf die Betreibung des Handels und der Industrie zu wenden. Herr Weiß hebt noch eine andere Ursache hervor, die in andern Ländern unsers Wissens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/317>, abgerufen am 23.07.2024.