Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Englands in der orientalischen Frage nur feige Nachgiebigkeit gesehen haben.
Aus diesen Erklärungen, die wie immer, solange eine diplomatische Verhandlung
noch schwebt, das wirklich Geschehene mehr ahnen lassen, als lant verkünden, und
die daher zur Ergänzung die Aeußerungen halb offizieller Blätter bedürfen, geht,
wenn man die Artikel der Times und den Morning Chronicle damit zusammen¬
hält, zweierlei hervor. Erstens, daß in Wien die Vertreter der vier Mächte,
England, Frankreich, Preußen und Oestreich einen Ausgleichungsvorschlag ver¬
einbart haben, durch dessen Aunahme (natürlich der Ansicht der vier Mächte
nach) die Ehre sowol Rußlands wie der Türkei gewahrt sei. Wie die Fassung
dieses Vorschlags ist, ist bis jetzt noch nicht mitgetheilt, und wir wissen nur so¬
viel, daß es weder der Antrag ist, dessen Annahme die Kreuzzeitung und andere
russenfreundliche Blätter schon seit Wochen austrompetet haben, obgleich er nur
von der russischen Diplomatie als Ballon d'essai laucirt worden ist, ohne
irgendwo Anklang zu finden, und der in der Annahme des Ultimatums gegen
einen vom Kaiser auszustellenden Revers, nichts gegen die Souveränetätsrechte
des Sultans zu thun, besteht, ebensowenig in dem Vorschlag des Herrn von
Brück, der einen Mittelweg zwischen den Forderungen Rußlands und den Zuge¬
ständnissen der westlichen Mächte zu finden suchte, sondern in einem von Frank¬
reich ausgegangenen, deu dann Oestreich, als vermittelnde Macht, zu dem seinigen
gemacht hat, und von dem man wol, wenn man seinen Ursprung in Betracht
nimmt, und bedenkt, welche Vorschläge von der Conferenz verworfen worden sind,
annehmen kann, daß er sich der Anschauung der westlichen Mächte nähert und
dem Wesen nach in einer dem Zar ertheilten Garantie -- in ähnlicher Form
wie in frühern Verträgen -- daß die Pforte die Rechte der Christen im Orient
nicht verletzen wird, welche Garantie aber zu gleicher Zeit allen vier Großmächten
ertheilt wird, besteht. Wir für unsre Person bezweifeln sehr, daß dieser
Vorschlag in Petersburg Annahme finden wird, denn er gewährt dem Zar zwar
das, was seine Diplomatie beständig als die äußerst gemäßigten Forderungen
Rußlands darstellt, aber nicht das, was er dnrch sein Benehmen thatsächlich er¬
zielt. Denn er erzielt nichts Geringeres, als eine Abänderung seiner völkerrecht¬
lichen Beziehungen zu der Türkei im allgemeinen und zu den türkischen Christen
insbesondere ohne die geringste Betheiligung der andern europäischen Mächte,
also seine ausschließliche Präponderanz im Orient, während, wenn der Sultan
wirklich durch die seinen christlichen Unterthanen gewährten Concessionen einen
Theil seiner Souveränetätsrechte aufgibt, auf diese Weise der Gewinn nicht Ru߬
land allein, sondern sämmtlichen Großmächten zufallen würde. Aber wenn der Zar
anch den Ausgleichungsvvrschlag nicht annimmt, ist wenigstens soviel gewonnen,
daß für jetzt Preußen und Oestreich in dieser Angelegenheit gemeinschaftlich mit
Frankreich und England gegen Nußland handeln, und letzteres vollkommen isolirt
ist. Ob diese Lage so bleiben wird, hängt freilich nicht blos von dem Grade der


Englands in der orientalischen Frage nur feige Nachgiebigkeit gesehen haben.
Aus diesen Erklärungen, die wie immer, solange eine diplomatische Verhandlung
noch schwebt, das wirklich Geschehene mehr ahnen lassen, als lant verkünden, und
die daher zur Ergänzung die Aeußerungen halb offizieller Blätter bedürfen, geht,
wenn man die Artikel der Times und den Morning Chronicle damit zusammen¬
hält, zweierlei hervor. Erstens, daß in Wien die Vertreter der vier Mächte,
England, Frankreich, Preußen und Oestreich einen Ausgleichungsvorschlag ver¬
einbart haben, durch dessen Aunahme (natürlich der Ansicht der vier Mächte
nach) die Ehre sowol Rußlands wie der Türkei gewahrt sei. Wie die Fassung
dieses Vorschlags ist, ist bis jetzt noch nicht mitgetheilt, und wir wissen nur so¬
viel, daß es weder der Antrag ist, dessen Annahme die Kreuzzeitung und andere
russenfreundliche Blätter schon seit Wochen austrompetet haben, obgleich er nur
von der russischen Diplomatie als Ballon d'essai laucirt worden ist, ohne
irgendwo Anklang zu finden, und der in der Annahme des Ultimatums gegen
einen vom Kaiser auszustellenden Revers, nichts gegen die Souveränetätsrechte
des Sultans zu thun, besteht, ebensowenig in dem Vorschlag des Herrn von
Brück, der einen Mittelweg zwischen den Forderungen Rußlands und den Zuge¬
ständnissen der westlichen Mächte zu finden suchte, sondern in einem von Frank¬
reich ausgegangenen, deu dann Oestreich, als vermittelnde Macht, zu dem seinigen
gemacht hat, und von dem man wol, wenn man seinen Ursprung in Betracht
nimmt, und bedenkt, welche Vorschläge von der Conferenz verworfen worden sind,
annehmen kann, daß er sich der Anschauung der westlichen Mächte nähert und
dem Wesen nach in einer dem Zar ertheilten Garantie — in ähnlicher Form
wie in frühern Verträgen — daß die Pforte die Rechte der Christen im Orient
nicht verletzen wird, welche Garantie aber zu gleicher Zeit allen vier Großmächten
ertheilt wird, besteht. Wir für unsre Person bezweifeln sehr, daß dieser
Vorschlag in Petersburg Annahme finden wird, denn er gewährt dem Zar zwar
das, was seine Diplomatie beständig als die äußerst gemäßigten Forderungen
Rußlands darstellt, aber nicht das, was er dnrch sein Benehmen thatsächlich er¬
zielt. Denn er erzielt nichts Geringeres, als eine Abänderung seiner völkerrecht¬
lichen Beziehungen zu der Türkei im allgemeinen und zu den türkischen Christen
insbesondere ohne die geringste Betheiligung der andern europäischen Mächte,
also seine ausschließliche Präponderanz im Orient, während, wenn der Sultan
wirklich durch die seinen christlichen Unterthanen gewährten Concessionen einen
Theil seiner Souveränetätsrechte aufgibt, auf diese Weise der Gewinn nicht Ru߬
land allein, sondern sämmtlichen Großmächten zufallen würde. Aber wenn der Zar
anch den Ausgleichungsvvrschlag nicht annimmt, ist wenigstens soviel gewonnen,
daß für jetzt Preußen und Oestreich in dieser Angelegenheit gemeinschaftlich mit
Frankreich und England gegen Nußland handeln, und letzteres vollkommen isolirt
ist. Ob diese Lage so bleiben wird, hängt freilich nicht blos von dem Grade der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96489"/>
          <p xml:id="ID_1084" prev="#ID_1083" next="#ID_1085"> Englands in der orientalischen Frage nur feige Nachgiebigkeit gesehen haben.<lb/>
Aus diesen Erklärungen, die wie immer, solange eine diplomatische Verhandlung<lb/>
noch schwebt, das wirklich Geschehene mehr ahnen lassen, als lant verkünden, und<lb/>
die daher zur Ergänzung die Aeußerungen halb offizieller Blätter bedürfen, geht,<lb/>
wenn man die Artikel der Times und den Morning Chronicle damit zusammen¬<lb/>
hält, zweierlei hervor. Erstens, daß in Wien die Vertreter der vier Mächte,<lb/>
England, Frankreich, Preußen und Oestreich einen Ausgleichungsvorschlag ver¬<lb/>
einbart haben, durch dessen Aunahme (natürlich der Ansicht der vier Mächte<lb/>
nach) die Ehre sowol Rußlands wie der Türkei gewahrt sei. Wie die Fassung<lb/>
dieses Vorschlags ist, ist bis jetzt noch nicht mitgetheilt, und wir wissen nur so¬<lb/>
viel, daß es weder der Antrag ist, dessen Annahme die Kreuzzeitung und andere<lb/>
russenfreundliche Blätter schon seit Wochen austrompetet haben, obgleich er nur<lb/>
von der russischen Diplomatie als Ballon d'essai laucirt worden ist, ohne<lb/>
irgendwo Anklang zu finden, und der in der Annahme des Ultimatums gegen<lb/>
einen vom Kaiser auszustellenden Revers, nichts gegen die Souveränetätsrechte<lb/>
des Sultans zu thun, besteht, ebensowenig in dem Vorschlag des Herrn von<lb/>
Brück, der einen Mittelweg zwischen den Forderungen Rußlands und den Zuge¬<lb/>
ständnissen der westlichen Mächte zu finden suchte, sondern in einem von Frank¬<lb/>
reich ausgegangenen, deu dann Oestreich, als vermittelnde Macht, zu dem seinigen<lb/>
gemacht hat, und von dem man wol, wenn man seinen Ursprung in Betracht<lb/>
nimmt, und bedenkt, welche Vorschläge von der Conferenz verworfen worden sind,<lb/>
annehmen kann, daß er sich der Anschauung der westlichen Mächte nähert und<lb/>
dem Wesen nach in einer dem Zar ertheilten Garantie &#x2014; in ähnlicher Form<lb/>
wie in frühern Verträgen &#x2014; daß die Pforte die Rechte der Christen im Orient<lb/>
nicht verletzen wird, welche Garantie aber zu gleicher Zeit allen vier Großmächten<lb/>
ertheilt wird, besteht. Wir für unsre Person bezweifeln sehr, daß dieser<lb/>
Vorschlag in Petersburg Annahme finden wird, denn er gewährt dem Zar zwar<lb/>
das, was seine Diplomatie beständig als die äußerst gemäßigten Forderungen<lb/>
Rußlands darstellt, aber nicht das, was er dnrch sein Benehmen thatsächlich er¬<lb/>
zielt. Denn er erzielt nichts Geringeres, als eine Abänderung seiner völkerrecht¬<lb/>
lichen Beziehungen zu der Türkei im allgemeinen und zu den türkischen Christen<lb/>
insbesondere ohne die geringste Betheiligung der andern europäischen Mächte,<lb/>
also seine ausschließliche Präponderanz im Orient, während, wenn der Sultan<lb/>
wirklich durch die seinen christlichen Unterthanen gewährten Concessionen einen<lb/>
Theil seiner Souveränetätsrechte aufgibt, auf diese Weise der Gewinn nicht Ru߬<lb/>
land allein, sondern sämmtlichen Großmächten zufallen würde. Aber wenn der Zar<lb/>
anch den Ausgleichungsvvrschlag nicht annimmt, ist wenigstens soviel gewonnen,<lb/>
daß für jetzt Preußen und Oestreich in dieser Angelegenheit gemeinschaftlich mit<lb/>
Frankreich und England gegen Nußland handeln, und letzteres vollkommen isolirt<lb/>
ist. Ob diese Lage so bleiben wird, hängt freilich nicht blos von dem Grade der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0314] Englands in der orientalischen Frage nur feige Nachgiebigkeit gesehen haben. Aus diesen Erklärungen, die wie immer, solange eine diplomatische Verhandlung noch schwebt, das wirklich Geschehene mehr ahnen lassen, als lant verkünden, und die daher zur Ergänzung die Aeußerungen halb offizieller Blätter bedürfen, geht, wenn man die Artikel der Times und den Morning Chronicle damit zusammen¬ hält, zweierlei hervor. Erstens, daß in Wien die Vertreter der vier Mächte, England, Frankreich, Preußen und Oestreich einen Ausgleichungsvorschlag ver¬ einbart haben, durch dessen Aunahme (natürlich der Ansicht der vier Mächte nach) die Ehre sowol Rußlands wie der Türkei gewahrt sei. Wie die Fassung dieses Vorschlags ist, ist bis jetzt noch nicht mitgetheilt, und wir wissen nur so¬ viel, daß es weder der Antrag ist, dessen Annahme die Kreuzzeitung und andere russenfreundliche Blätter schon seit Wochen austrompetet haben, obgleich er nur von der russischen Diplomatie als Ballon d'essai laucirt worden ist, ohne irgendwo Anklang zu finden, und der in der Annahme des Ultimatums gegen einen vom Kaiser auszustellenden Revers, nichts gegen die Souveränetätsrechte des Sultans zu thun, besteht, ebensowenig in dem Vorschlag des Herrn von Brück, der einen Mittelweg zwischen den Forderungen Rußlands und den Zuge¬ ständnissen der westlichen Mächte zu finden suchte, sondern in einem von Frank¬ reich ausgegangenen, deu dann Oestreich, als vermittelnde Macht, zu dem seinigen gemacht hat, und von dem man wol, wenn man seinen Ursprung in Betracht nimmt, und bedenkt, welche Vorschläge von der Conferenz verworfen worden sind, annehmen kann, daß er sich der Anschauung der westlichen Mächte nähert und dem Wesen nach in einer dem Zar ertheilten Garantie — in ähnlicher Form wie in frühern Verträgen — daß die Pforte die Rechte der Christen im Orient nicht verletzen wird, welche Garantie aber zu gleicher Zeit allen vier Großmächten ertheilt wird, besteht. Wir für unsre Person bezweifeln sehr, daß dieser Vorschlag in Petersburg Annahme finden wird, denn er gewährt dem Zar zwar das, was seine Diplomatie beständig als die äußerst gemäßigten Forderungen Rußlands darstellt, aber nicht das, was er dnrch sein Benehmen thatsächlich er¬ zielt. Denn er erzielt nichts Geringeres, als eine Abänderung seiner völkerrecht¬ lichen Beziehungen zu der Türkei im allgemeinen und zu den türkischen Christen insbesondere ohne die geringste Betheiligung der andern europäischen Mächte, also seine ausschließliche Präponderanz im Orient, während, wenn der Sultan wirklich durch die seinen christlichen Unterthanen gewährten Concessionen einen Theil seiner Souveränetätsrechte aufgibt, auf diese Weise der Gewinn nicht Ru߬ land allein, sondern sämmtlichen Großmächten zufallen würde. Aber wenn der Zar anch den Ausgleichungsvvrschlag nicht annimmt, ist wenigstens soviel gewonnen, daß für jetzt Preußen und Oestreich in dieser Angelegenheit gemeinschaftlich mit Frankreich und England gegen Nußland handeln, und letzteres vollkommen isolirt ist. Ob diese Lage so bleiben wird, hängt freilich nicht blos von dem Grade der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/314
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/314>, abgerufen am 23.07.2024.