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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Indem wir diese Versäumnis; nachholen, bemerken wir ausdrücklich, daß
Herr v. Flavigny, weit entfernt ein Gegner der jetzigen Regierung zu sein, viel¬
mehr zu den erklärten Anhängern derselben gezählt wird, wenn auch nicht zu den
eigentlichen Bonapartisten, d. l). zu denen, welche entweder wirklich den Tradi¬
tionen nud dem Princip des Kaiserreichs ergeben sind oder die, wie unstreitig
die größere Zahl, ohne politische Grundsätze uuter dem herrschenden Regime die
reichlichste Befriedigung ihrer Privatinteressen suchen und finden. Herr v. Fla¬
vigny gehört zu der zahlreichen Classe, um ein populäres Wort zu gebrauchen,
der "politischen Philister", die den wahren oder eingebildeten Gefahren des So¬
cialismus gegenüber und aus Abneigung gegen die Republik, Louis Napoleon
als den Manu des Heils und der Staatsrettung begrüßten und unterstützten, die
von seiner Negierung Ordnung, Sicherheit und ein, wenn auch bescheidenes,
Maß von Freiheit erwarteten. Diese Männer der Nützlichkeit, einigermaßen
lax, was Principien betrifft, sehen ihre bescheidenen Hoffnungen nicht erfüllt, sie
vermissen die Freiheit beinahe gänzlich, erblicken die Ordnung nur äußerlich und
suchen umsonst nach Sicherheit in Zuständen, die nicht blos auf der Spitze jedes
Zufalls schweben, sondern für die Bedürfnisse, ja für die Bequemlichkeit der Ge¬
genwart die Zukunft unbekümmert verpfänden. Die Darlegung Flavignys ist
also um so überzeugender, als sie der Ausdruck der aufrichtigsten und unparteiisch¬
sten Besorgniß ist, nud hat außerdem in den Entgegnungen der Kommissare
des Staatsrathes nur vage und allgemeine Einwendungen, keineswegs aber eine
Widerlegung gefunden.

Zuerst ist darnach zu bemerken, daß in dem Budget der Amortisationsfond,
der auf den Zeitraum von 38 Jahren seit 1815 bis 18S3 "ertheilt, durchschnitt¬
lich eine Summe vou 82 Millionen Francs beträgt, gänzlich seiner Bestimmung
entfremdet und zu den allgemeinen Staatsausgaben verwendet ist. Durch die
Thätigkeit der Amortisation hatte Frankreich im Jahr 18i8, beim Sturz der
Julimonarchie, keine größere jährliche Rente, als im Beginne der Restauration
nach dem ersten Frieden von Paris (173 Millionen Francs) zu entrichten, obwol
der Staat durch die Ausgaben für die Expeditionen nach Spanien und Morcci^
die Eroberung von Algier, die Emigrantcnmilliarde, die Befestigung von Paris
und mehr als eine Milliarde für öffentliche Arbeiten belastet worden war. Bis zum
Jahre 1833 wurde der Fonds stets seiner Bestimmung getreu, die zugleich eine
Verpflichtung gegen die Staatöglänbiger, weil eine ihrer Sicherheiten, ist, zum
Rückkauf der Rente verausgabt; erst seit dieser Zeit entzog man ihn öfters seinem
normalen Zweck und verfügte über ihn zur Deckung der schwebenden Schuld oder
anderer Ausgaben. Seit 18t 8 hat man gänzlich aufgehört zu amortisiren;
und die Regierung Louis Napoleons scheint einen Mißbrauch, der in einer Periode
der Krisis einriß, dauernd machen zu wollen. Es leuchtet ein, wie bedenklich
ein Finanzsystem ist, das die Amortisation beseitigt und deren Fonds in die all-


Indem wir diese Versäumnis; nachholen, bemerken wir ausdrücklich, daß
Herr v. Flavigny, weit entfernt ein Gegner der jetzigen Regierung zu sein, viel¬
mehr zu den erklärten Anhängern derselben gezählt wird, wenn auch nicht zu den
eigentlichen Bonapartisten, d. l). zu denen, welche entweder wirklich den Tradi¬
tionen nud dem Princip des Kaiserreichs ergeben sind oder die, wie unstreitig
die größere Zahl, ohne politische Grundsätze uuter dem herrschenden Regime die
reichlichste Befriedigung ihrer Privatinteressen suchen und finden. Herr v. Fla¬
vigny gehört zu der zahlreichen Classe, um ein populäres Wort zu gebrauchen,
der „politischen Philister", die den wahren oder eingebildeten Gefahren des So¬
cialismus gegenüber und aus Abneigung gegen die Republik, Louis Napoleon
als den Manu des Heils und der Staatsrettung begrüßten und unterstützten, die
von seiner Negierung Ordnung, Sicherheit und ein, wenn auch bescheidenes,
Maß von Freiheit erwarteten. Diese Männer der Nützlichkeit, einigermaßen
lax, was Principien betrifft, sehen ihre bescheidenen Hoffnungen nicht erfüllt, sie
vermissen die Freiheit beinahe gänzlich, erblicken die Ordnung nur äußerlich und
suchen umsonst nach Sicherheit in Zuständen, die nicht blos auf der Spitze jedes
Zufalls schweben, sondern für die Bedürfnisse, ja für die Bequemlichkeit der Ge¬
genwart die Zukunft unbekümmert verpfänden. Die Darlegung Flavignys ist
also um so überzeugender, als sie der Ausdruck der aufrichtigsten und unparteiisch¬
sten Besorgniß ist, nud hat außerdem in den Entgegnungen der Kommissare
des Staatsrathes nur vage und allgemeine Einwendungen, keineswegs aber eine
Widerlegung gefunden.

Zuerst ist darnach zu bemerken, daß in dem Budget der Amortisationsfond,
der auf den Zeitraum von 38 Jahren seit 1815 bis 18S3 »ertheilt, durchschnitt¬
lich eine Summe vou 82 Millionen Francs beträgt, gänzlich seiner Bestimmung
entfremdet und zu den allgemeinen Staatsausgaben verwendet ist. Durch die
Thätigkeit der Amortisation hatte Frankreich im Jahr 18i8, beim Sturz der
Julimonarchie, keine größere jährliche Rente, als im Beginne der Restauration
nach dem ersten Frieden von Paris (173 Millionen Francs) zu entrichten, obwol
der Staat durch die Ausgaben für die Expeditionen nach Spanien und Morcci^
die Eroberung von Algier, die Emigrantcnmilliarde, die Befestigung von Paris
und mehr als eine Milliarde für öffentliche Arbeiten belastet worden war. Bis zum
Jahre 1833 wurde der Fonds stets seiner Bestimmung getreu, die zugleich eine
Verpflichtung gegen die Staatöglänbiger, weil eine ihrer Sicherheiten, ist, zum
Rückkauf der Rente verausgabt; erst seit dieser Zeit entzog man ihn öfters seinem
normalen Zweck und verfügte über ihn zur Deckung der schwebenden Schuld oder
anderer Ausgaben. Seit 18t 8 hat man gänzlich aufgehört zu amortisiren;
und die Regierung Louis Napoleons scheint einen Mißbrauch, der in einer Periode
der Krisis einriß, dauernd machen zu wollen. Es leuchtet ein, wie bedenklich
ein Finanzsystem ist, das die Amortisation beseitigt und deren Fonds in die all-


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[0276] Indem wir diese Versäumnis; nachholen, bemerken wir ausdrücklich, daß Herr v. Flavigny, weit entfernt ein Gegner der jetzigen Regierung zu sein, viel¬ mehr zu den erklärten Anhängern derselben gezählt wird, wenn auch nicht zu den eigentlichen Bonapartisten, d. l). zu denen, welche entweder wirklich den Tradi¬ tionen nud dem Princip des Kaiserreichs ergeben sind oder die, wie unstreitig die größere Zahl, ohne politische Grundsätze uuter dem herrschenden Regime die reichlichste Befriedigung ihrer Privatinteressen suchen und finden. Herr v. Fla¬ vigny gehört zu der zahlreichen Classe, um ein populäres Wort zu gebrauchen, der „politischen Philister", die den wahren oder eingebildeten Gefahren des So¬ cialismus gegenüber und aus Abneigung gegen die Republik, Louis Napoleon als den Manu des Heils und der Staatsrettung begrüßten und unterstützten, die von seiner Negierung Ordnung, Sicherheit und ein, wenn auch bescheidenes, Maß von Freiheit erwarteten. Diese Männer der Nützlichkeit, einigermaßen lax, was Principien betrifft, sehen ihre bescheidenen Hoffnungen nicht erfüllt, sie vermissen die Freiheit beinahe gänzlich, erblicken die Ordnung nur äußerlich und suchen umsonst nach Sicherheit in Zuständen, die nicht blos auf der Spitze jedes Zufalls schweben, sondern für die Bedürfnisse, ja für die Bequemlichkeit der Ge¬ genwart die Zukunft unbekümmert verpfänden. Die Darlegung Flavignys ist also um so überzeugender, als sie der Ausdruck der aufrichtigsten und unparteiisch¬ sten Besorgniß ist, nud hat außerdem in den Entgegnungen der Kommissare des Staatsrathes nur vage und allgemeine Einwendungen, keineswegs aber eine Widerlegung gefunden. Zuerst ist darnach zu bemerken, daß in dem Budget der Amortisationsfond, der auf den Zeitraum von 38 Jahren seit 1815 bis 18S3 »ertheilt, durchschnitt¬ lich eine Summe vou 82 Millionen Francs beträgt, gänzlich seiner Bestimmung entfremdet und zu den allgemeinen Staatsausgaben verwendet ist. Durch die Thätigkeit der Amortisation hatte Frankreich im Jahr 18i8, beim Sturz der Julimonarchie, keine größere jährliche Rente, als im Beginne der Restauration nach dem ersten Frieden von Paris (173 Millionen Francs) zu entrichten, obwol der Staat durch die Ausgaben für die Expeditionen nach Spanien und Morcci^ die Eroberung von Algier, die Emigrantcnmilliarde, die Befestigung von Paris und mehr als eine Milliarde für öffentliche Arbeiten belastet worden war. Bis zum Jahre 1833 wurde der Fonds stets seiner Bestimmung getreu, die zugleich eine Verpflichtung gegen die Staatöglänbiger, weil eine ihrer Sicherheiten, ist, zum Rückkauf der Rente verausgabt; erst seit dieser Zeit entzog man ihn öfters seinem normalen Zweck und verfügte über ihn zur Deckung der schwebenden Schuld oder anderer Ausgaben. Seit 18t 8 hat man gänzlich aufgehört zu amortisiren; und die Regierung Louis Napoleons scheint einen Mißbrauch, der in einer Periode der Krisis einriß, dauernd machen zu wollen. Es leuchtet ein, wie bedenklich ein Finanzsystem ist, das die Amortisation beseitigt und deren Fonds in die all-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/276>, abgerufen am 01.10.2024.