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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Presse in Deutschland bekannt wurden, sprachen wir den Wunsch ans, Herr Delins,
gegenwärtig vielleicht der gediegenste Kenner Shakespeares in Deutschland, möchte
ein ausführliches Gutachten darüber abgeben. Dies ist jetzt geschehen, aber in
einer Weise, die uns einigermaßen überrascht hat. Delius geht nämlich weiter
als die englischen Gegner Colliers; er erklärt die ganze Entdeckung für eine
Windbeutelei. Mit Ausnahme von 18 Emendationen, die er gelten läßt, und
mit Ausnahme der Verbesserungen, die bereits früher durch die Kritiker ziemlich
festgestellt sind, und die in jener handschriftlichen Correctur gewissermaßen ihre
Bestätigung finden, verwirft er die neuen Lesarten unbedingt und hält sie nicht
für Herstellungen des alten Textes, sondern für die willkürlichen Einfälle eines
wohlmeinenden, aber unreifen Mannes, der darauf ausgegangen sei, Shakespeare
zu verbessern.

Um uns in dieser Streitfrage zu orientiren, wollen wir erst diejenigen Punkte
feststellen, über welche die Gegner einig find. Collier hat in einer alten Folio¬
ausgabe von 1632 alte handschriftliche Correcturen vorgefunden, die sich bis zur
Zahl von 20,000 belaufen und die er in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
verlegt. In dieser Voraussetzung stimmen alle Gegner mit ihm überein. Nun
finden sich unter diesen Correcturen eine Reihe von Verbesserungen -- Herr Delius
zählt deren 329 -- die mit dem Resultate der neuern Kritik übereinstimmen.
Hr. Delius sucht daraus zu beweisen, daß man ans diesen alten Correcturen nicht
viel neues lernen könne; indeß er wird seinen Gegnern einen andern Schluß
nicht bestreiten können; daß nämlich diese Uebereinstimmung der Kritik eines einzelnen
Mannes mit dem, was eine spätere Kritik von zwei Jahrhunderten als gewiß
herausgestellt hat, entweder voraussetzt, daß dieser einzelne Mann einen sehr
eminenten kritischen Scharfsinn besessen haben muß, oder daß ihm Quellen zu
Gebote standen, die dem späteren Kritiker nicht mehr zugänglich waren. Dieser
Schluß erscheint um so gerechtfertigter, wenn man die neuen werthvollen Emen¬
dationen mit dazu rechnet, die Hr Delius selbst ans 18 angibt, die sich aber bei
den englischen Gegnern Colliers auf eine weit größere Zahl belaufen.

Hr. Delius sträubt sich gegen beide Voraussetzungen, theils ans äußern
Gründen, theils weil eine sehr große und vielleicht überwiegende Zahl der Emen¬
dationen in das Gebiet der Conjectur gehört, und zwar häufig einer nicht sehr
glücklichen Conjectur. Es ist in der That nicht zu leugnen, daß die Gründe, die
er dafür anführt, schlagend sind, und daß der Glaube, es mit einer neuentdeckten
Autorität, mit einer wirklichen Quelle zu thun zu haben, dadurch sehr erschüttert
wird. Eine neue Ausgabe Shakespeares unbedingt oder auch mir zum größten
Theil auf diese neue Quelle zu begründen, würde ein sehr mißliches Unter¬
nehmen sein.

Aber Herr Delius scheint doch etwas zu weit gegangen zu sein. Wenn es
sich auch erweisen ließe, daß die Mehrzahl der Emendationen sich nicht ans eine


Presse in Deutschland bekannt wurden, sprachen wir den Wunsch ans, Herr Delins,
gegenwärtig vielleicht der gediegenste Kenner Shakespeares in Deutschland, möchte
ein ausführliches Gutachten darüber abgeben. Dies ist jetzt geschehen, aber in
einer Weise, die uns einigermaßen überrascht hat. Delius geht nämlich weiter
als die englischen Gegner Colliers; er erklärt die ganze Entdeckung für eine
Windbeutelei. Mit Ausnahme von 18 Emendationen, die er gelten läßt, und
mit Ausnahme der Verbesserungen, die bereits früher durch die Kritiker ziemlich
festgestellt sind, und die in jener handschriftlichen Correctur gewissermaßen ihre
Bestätigung finden, verwirft er die neuen Lesarten unbedingt und hält sie nicht
für Herstellungen des alten Textes, sondern für die willkürlichen Einfälle eines
wohlmeinenden, aber unreifen Mannes, der darauf ausgegangen sei, Shakespeare
zu verbessern.

Um uns in dieser Streitfrage zu orientiren, wollen wir erst diejenigen Punkte
feststellen, über welche die Gegner einig find. Collier hat in einer alten Folio¬
ausgabe von 1632 alte handschriftliche Correcturen vorgefunden, die sich bis zur
Zahl von 20,000 belaufen und die er in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts
verlegt. In dieser Voraussetzung stimmen alle Gegner mit ihm überein. Nun
finden sich unter diesen Correcturen eine Reihe von Verbesserungen — Herr Delius
zählt deren 329 — die mit dem Resultate der neuern Kritik übereinstimmen.
Hr. Delius sucht daraus zu beweisen, daß man ans diesen alten Correcturen nicht
viel neues lernen könne; indeß er wird seinen Gegnern einen andern Schluß
nicht bestreiten können; daß nämlich diese Uebereinstimmung der Kritik eines einzelnen
Mannes mit dem, was eine spätere Kritik von zwei Jahrhunderten als gewiß
herausgestellt hat, entweder voraussetzt, daß dieser einzelne Mann einen sehr
eminenten kritischen Scharfsinn besessen haben muß, oder daß ihm Quellen zu
Gebote standen, die dem späteren Kritiker nicht mehr zugänglich waren. Dieser
Schluß erscheint um so gerechtfertigter, wenn man die neuen werthvollen Emen¬
dationen mit dazu rechnet, die Hr Delius selbst ans 18 angibt, die sich aber bei
den englischen Gegnern Colliers auf eine weit größere Zahl belaufen.

Hr. Delius sträubt sich gegen beide Voraussetzungen, theils ans äußern
Gründen, theils weil eine sehr große und vielleicht überwiegende Zahl der Emen¬
dationen in das Gebiet der Conjectur gehört, und zwar häufig einer nicht sehr
glücklichen Conjectur. Es ist in der That nicht zu leugnen, daß die Gründe, die
er dafür anführt, schlagend sind, und daß der Glaube, es mit einer neuentdeckten
Autorität, mit einer wirklichen Quelle zu thun zu haben, dadurch sehr erschüttert
wird. Eine neue Ausgabe Shakespeares unbedingt oder auch mir zum größten
Theil auf diese neue Quelle zu begründen, würde ein sehr mißliches Unter¬
nehmen sein.

Aber Herr Delius scheint doch etwas zu weit gegangen zu sein. Wenn es
sich auch erweisen ließe, daß die Mehrzahl der Emendationen sich nicht ans eine


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[0237] Presse in Deutschland bekannt wurden, sprachen wir den Wunsch ans, Herr Delins, gegenwärtig vielleicht der gediegenste Kenner Shakespeares in Deutschland, möchte ein ausführliches Gutachten darüber abgeben. Dies ist jetzt geschehen, aber in einer Weise, die uns einigermaßen überrascht hat. Delius geht nämlich weiter als die englischen Gegner Colliers; er erklärt die ganze Entdeckung für eine Windbeutelei. Mit Ausnahme von 18 Emendationen, die er gelten läßt, und mit Ausnahme der Verbesserungen, die bereits früher durch die Kritiker ziemlich festgestellt sind, und die in jener handschriftlichen Correctur gewissermaßen ihre Bestätigung finden, verwirft er die neuen Lesarten unbedingt und hält sie nicht für Herstellungen des alten Textes, sondern für die willkürlichen Einfälle eines wohlmeinenden, aber unreifen Mannes, der darauf ausgegangen sei, Shakespeare zu verbessern. Um uns in dieser Streitfrage zu orientiren, wollen wir erst diejenigen Punkte feststellen, über welche die Gegner einig find. Collier hat in einer alten Folio¬ ausgabe von 1632 alte handschriftliche Correcturen vorgefunden, die sich bis zur Zahl von 20,000 belaufen und die er in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts verlegt. In dieser Voraussetzung stimmen alle Gegner mit ihm überein. Nun finden sich unter diesen Correcturen eine Reihe von Verbesserungen — Herr Delius zählt deren 329 — die mit dem Resultate der neuern Kritik übereinstimmen. Hr. Delius sucht daraus zu beweisen, daß man ans diesen alten Correcturen nicht viel neues lernen könne; indeß er wird seinen Gegnern einen andern Schluß nicht bestreiten können; daß nämlich diese Uebereinstimmung der Kritik eines einzelnen Mannes mit dem, was eine spätere Kritik von zwei Jahrhunderten als gewiß herausgestellt hat, entweder voraussetzt, daß dieser einzelne Mann einen sehr eminenten kritischen Scharfsinn besessen haben muß, oder daß ihm Quellen zu Gebote standen, die dem späteren Kritiker nicht mehr zugänglich waren. Dieser Schluß erscheint um so gerechtfertigter, wenn man die neuen werthvollen Emen¬ dationen mit dazu rechnet, die Hr Delius selbst ans 18 angibt, die sich aber bei den englischen Gegnern Colliers auf eine weit größere Zahl belaufen. Hr. Delius sträubt sich gegen beide Voraussetzungen, theils ans äußern Gründen, theils weil eine sehr große und vielleicht überwiegende Zahl der Emen¬ dationen in das Gebiet der Conjectur gehört, und zwar häufig einer nicht sehr glücklichen Conjectur. Es ist in der That nicht zu leugnen, daß die Gründe, die er dafür anführt, schlagend sind, und daß der Glaube, es mit einer neuentdeckten Autorität, mit einer wirklichen Quelle zu thun zu haben, dadurch sehr erschüttert wird. Eine neue Ausgabe Shakespeares unbedingt oder auch mir zum größten Theil auf diese neue Quelle zu begründen, würde ein sehr mißliches Unter¬ nehmen sein. Aber Herr Delius scheint doch etwas zu weit gegangen zu sein. Wenn es sich auch erweisen ließe, daß die Mehrzahl der Emendationen sich nicht ans eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/237>, abgerufen am 23.07.2024.