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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Schon damals hatten sich gegen die Hegelsche Philosophie, oder was eigent¬
lich dasselbe sagen will, gegen die organische Fortentwickelung der deutschen Phi¬
losophie seit Kant überhaupt, zahlreiche Gegner , erhoben, die aber mit Ausnahme
dieses Gegensatzes nichts miteinander gemein hatten. Man kann auch nicht
eigentlich sagen, daß sich seit dieser Zeit unter ihnen etwas Gemeinsames entwickelt
hätte; abgesehn, von den Herbartianern, die doch mehr in den Reihen der
exacten Wissenschaften ihre Thätigkeit ausüben, als in den ethischen oder ästhe¬
tischen, philosophirt noch jeder dieser Gegner Hegels auf eigene Hand, ohne daß
sich der eine um den andern bekümmerte. Aber soviel ist gewiß, daß die eigent¬
liche Schnlphilosophie in den Hintergrund getrieben ist, und wenn in den Jahren
1837 bis 1843 der Streit zwischen den Alt- und Jung - Hegelianern die ge¬
stimmte Literatur, ja die gesammte gebildete Welt beschäftigte, so würde uns heute
ein solcher Streit kaum noch näher berühren, als etwa der Kampf zwischen den
Alt- nud Jung - Chinesen, der in diesem Augenblick in blutiger Revolution das
heilige Reich der Mitte verheert. Ja es werden schon Anstalten getroffen, daß
sich die gesammten streitenden Kirchen, die einander bisher mit so großer Erbit¬
terung bekämpft, unter einem gemeinsamen Banner vereinigen, wie es etwa in
Amerika die Freimaurer sämmtlicher Orden thun würden, die zwar untereinander
die heftigsten Kämpfe haben, die aber doch dem profanen Volke gegenüber in
einer gewissen Gemeinsamkeit zusammengeschlossen sind.

Unter diesen Umständen ist die Frage wol sehr am Orte, was Deutsch¬
land und was die Welt durch die große philosophische Bewegung, die seit län¬
ger als 17 Jahren die bedeutendsten Kräfte des Volkes absorbirt, eigentlich ge¬
wonnen hat. Diese Frage wird von Herrn Ritter in der ersten der von uns
genannten Schriften behandelt. Er geht nicht wie die meisten populären Geschichts-
schreiber darauf ans, vollständig alles zu sammeln, was von den neuern Philo¬
sophen falsches oder richtiges behauptet worden ist, er nimmt vielmehr eine
weitere und umfassendere Perspective ein, und bemüht sich, die leitenden Gesichts¬
punkte und die Methode der hervorragendsten Philosophen ans dem allgemeinen
Stande der Literatur herzuleiten. Wie sich von einem sorgfältigen und bewährten
Forscher der Philosophie, der sich dem Einfluß keiner einzigen unter diesen Schulen
unterworfen, ihnen allen aber eine ernste Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht anders er¬
warten läßt, finden sich in dieser historischen Expedition sehr viel feine und tref¬
fende Bemerkungen, ans denen wir theils Bestätigung früher aufgestellter An¬
sichten, theils auch neue Belehrung schöpfen. Wir begreifen vollkommen ans
der allgemeinen Entwickelung der Cultur, warum sich Kant, Fichte, Schelling,
Hegel, Herbart grade diese Probleme ihres Nachdenkens gestellt haben und keine
andern, warum sie grade diese bestimmte Seite ihres Gegenstandes betont haben
und wie sie auf diese bestimmte Methode gekommen sind. Das alles begreifen
wir vollkommen. Wir begreifen ferner, wie ihre geistvollen und tiefsinnigen For-


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Schon damals hatten sich gegen die Hegelsche Philosophie, oder was eigent¬
lich dasselbe sagen will, gegen die organische Fortentwickelung der deutschen Phi¬
losophie seit Kant überhaupt, zahlreiche Gegner , erhoben, die aber mit Ausnahme
dieses Gegensatzes nichts miteinander gemein hatten. Man kann auch nicht
eigentlich sagen, daß sich seit dieser Zeit unter ihnen etwas Gemeinsames entwickelt
hätte; abgesehn, von den Herbartianern, die doch mehr in den Reihen der
exacten Wissenschaften ihre Thätigkeit ausüben, als in den ethischen oder ästhe¬
tischen, philosophirt noch jeder dieser Gegner Hegels auf eigene Hand, ohne daß
sich der eine um den andern bekümmerte. Aber soviel ist gewiß, daß die eigent¬
liche Schnlphilosophie in den Hintergrund getrieben ist, und wenn in den Jahren
1837 bis 1843 der Streit zwischen den Alt- und Jung - Hegelianern die ge¬
stimmte Literatur, ja die gesammte gebildete Welt beschäftigte, so würde uns heute
ein solcher Streit kaum noch näher berühren, als etwa der Kampf zwischen den
Alt- nud Jung - Chinesen, der in diesem Augenblick in blutiger Revolution das
heilige Reich der Mitte verheert. Ja es werden schon Anstalten getroffen, daß
sich die gesammten streitenden Kirchen, die einander bisher mit so großer Erbit¬
terung bekämpft, unter einem gemeinsamen Banner vereinigen, wie es etwa in
Amerika die Freimaurer sämmtlicher Orden thun würden, die zwar untereinander
die heftigsten Kämpfe haben, die aber doch dem profanen Volke gegenüber in
einer gewissen Gemeinsamkeit zusammengeschlossen sind.

Unter diesen Umständen ist die Frage wol sehr am Orte, was Deutsch¬
land und was die Welt durch die große philosophische Bewegung, die seit län¬
ger als 17 Jahren die bedeutendsten Kräfte des Volkes absorbirt, eigentlich ge¬
wonnen hat. Diese Frage wird von Herrn Ritter in der ersten der von uns
genannten Schriften behandelt. Er geht nicht wie die meisten populären Geschichts-
schreiber darauf ans, vollständig alles zu sammeln, was von den neuern Philo¬
sophen falsches oder richtiges behauptet worden ist, er nimmt vielmehr eine
weitere und umfassendere Perspective ein, und bemüht sich, die leitenden Gesichts¬
punkte und die Methode der hervorragendsten Philosophen ans dem allgemeinen
Stande der Literatur herzuleiten. Wie sich von einem sorgfältigen und bewährten
Forscher der Philosophie, der sich dem Einfluß keiner einzigen unter diesen Schulen
unterworfen, ihnen allen aber eine ernste Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht anders er¬
warten läßt, finden sich in dieser historischen Expedition sehr viel feine und tref¬
fende Bemerkungen, ans denen wir theils Bestätigung früher aufgestellter An¬
sichten, theils auch neue Belehrung schöpfen. Wir begreifen vollkommen ans
der allgemeinen Entwickelung der Cultur, warum sich Kant, Fichte, Schelling,
Hegel, Herbart grade diese Probleme ihres Nachdenkens gestellt haben und keine
andern, warum sie grade diese bestimmte Seite ihres Gegenstandes betont haben
und wie sie auf diese bestimmte Methode gekommen sind. Das alles begreifen
wir vollkommen. Wir begreifen ferner, wie ihre geistvollen und tiefsinnigen For-


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[0139] Schon damals hatten sich gegen die Hegelsche Philosophie, oder was eigent¬ lich dasselbe sagen will, gegen die organische Fortentwickelung der deutschen Phi¬ losophie seit Kant überhaupt, zahlreiche Gegner , erhoben, die aber mit Ausnahme dieses Gegensatzes nichts miteinander gemein hatten. Man kann auch nicht eigentlich sagen, daß sich seit dieser Zeit unter ihnen etwas Gemeinsames entwickelt hätte; abgesehn, von den Herbartianern, die doch mehr in den Reihen der exacten Wissenschaften ihre Thätigkeit ausüben, als in den ethischen oder ästhe¬ tischen, philosophirt noch jeder dieser Gegner Hegels auf eigene Hand, ohne daß sich der eine um den andern bekümmerte. Aber soviel ist gewiß, daß die eigent¬ liche Schnlphilosophie in den Hintergrund getrieben ist, und wenn in den Jahren 1837 bis 1843 der Streit zwischen den Alt- und Jung - Hegelianern die ge¬ stimmte Literatur, ja die gesammte gebildete Welt beschäftigte, so würde uns heute ein solcher Streit kaum noch näher berühren, als etwa der Kampf zwischen den Alt- nud Jung - Chinesen, der in diesem Augenblick in blutiger Revolution das heilige Reich der Mitte verheert. Ja es werden schon Anstalten getroffen, daß sich die gesammten streitenden Kirchen, die einander bisher mit so großer Erbit¬ terung bekämpft, unter einem gemeinsamen Banner vereinigen, wie es etwa in Amerika die Freimaurer sämmtlicher Orden thun würden, die zwar untereinander die heftigsten Kämpfe haben, die aber doch dem profanen Volke gegenüber in einer gewissen Gemeinsamkeit zusammengeschlossen sind. Unter diesen Umständen ist die Frage wol sehr am Orte, was Deutsch¬ land und was die Welt durch die große philosophische Bewegung, die seit län¬ ger als 17 Jahren die bedeutendsten Kräfte des Volkes absorbirt, eigentlich ge¬ wonnen hat. Diese Frage wird von Herrn Ritter in der ersten der von uns genannten Schriften behandelt. Er geht nicht wie die meisten populären Geschichts- schreiber darauf ans, vollständig alles zu sammeln, was von den neuern Philo¬ sophen falsches oder richtiges behauptet worden ist, er nimmt vielmehr eine weitere und umfassendere Perspective ein, und bemüht sich, die leitenden Gesichts¬ punkte und die Methode der hervorragendsten Philosophen ans dem allgemeinen Stande der Literatur herzuleiten. Wie sich von einem sorgfältigen und bewährten Forscher der Philosophie, der sich dem Einfluß keiner einzigen unter diesen Schulen unterworfen, ihnen allen aber eine ernste Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht anders er¬ warten läßt, finden sich in dieser historischen Expedition sehr viel feine und tref¬ fende Bemerkungen, ans denen wir theils Bestätigung früher aufgestellter An¬ sichten, theils auch neue Belehrung schöpfen. Wir begreifen vollkommen ans der allgemeinen Entwickelung der Cultur, warum sich Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart grade diese Probleme ihres Nachdenkens gestellt haben und keine andern, warum sie grade diese bestimmte Seite ihres Gegenstandes betont haben und wie sie auf diese bestimmte Methode gekommen sind. Das alles begreifen wir vollkommen. Wir begreifen ferner, wie ihre geistvollen und tiefsinnigen For- 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/139>, abgerufen am 03.07.2024.