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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Dagegen hat die Anlage der jetzt in Betrieb befindlichen Bahnen ein Capital von
mehr als 170 Millionen Thaler absorbirt. Hätte sich der Eisenbahnbau gleich¬
mäßiger über das Land vertheilt, so würde niemand darunter gelitten haben.
Da der Eisenbahnbau jedoch für die baltischen Provinzen bis jetzt von geringem
Nutzen gewesen ist, so konnte es nicht günstig aus den Zustand der schon ohnehin
Mangel an Capital und Credit fühlenden Landwirthschaft in diesen Gegenden
zurückwirken, wenn jene enorme Summe der directen Verwendung in der Land¬
wirthschaft und den Gewerben entzogen wurde.

Im allgemeinen scheint man in Preußen die Vorzüge eines erweiterten
Eisenbahn- und Chausseewesens nicht nach allen Seiten hin gehörig gewürdigt
zu haben. Chausseen, Kanäle und Eisenbahnen sind nicht blos Mittel, um Sachen
und Personen leichter von einem Orte nach dem andern zu schaffen, es sind zu¬
gleich wichtige Culturfvrderuugsmittel. Auf den Flügeln des Dampfes und auf
den Segeln der Schiffe schreitet die Cultur durch das Land. Dieser mittelbare
Gewinn ist ebenso wichtig wie der unmittelbare, der dnrch den erleichterten
Transport herbeigeführt wird. Es ist ein großei Unterschied zwischen dem Cultur-
zustande der Bevölkerungen in der Nähe der großen Land- und Wasserstraßen
und in isolirt gelegenen Landstrichen. Was hält den masurischen Bauern in der
Cultur soweit hinter seinen westlicheren Nachbarn zurück als die isolirte Lage
dieses Landestheiles? Man fühlt es in unsern östlichen Provinzen sehr wohl,
wie wichtig die Belebung des Verkehrs und die Kenntniß fremder Zustände für
den Culturfortschritt unter der ländlichen Bevölkerung sind. Wenn man vor
Jahren in der Provinz Preußen beabsichtigte, Bauernsöhne, die später das väter¬
liche Erbtheil übernehmen, für einige Zeit nach Gegenden zu senden, wo die
Landwirthschaft bereits auf einer höheren Stufe steht, wenn sich in der Provinz
Posen ein Wanderverein für Landwirthe gebildet hat, so deutet dies auf ein Be¬
dürfniß hin, welches durch die Belebung des Verkehrs überhaupt eine viel um¬
fassendere Befriedigung finden würde. Wo die Circulation lebhaft ist, da reißt
sich das Individuum häufiger von seiner Scholle los, fremde Vorbilder werden
leichter bekannt und leichter nachgeahmt, und es stellt sich von selbst eine praktische
Bildung ein, welche durch das trefflichste Schulwesen nicht erzeugt werden kann.
Eine Chaussee- oder Eisenbahnverbindung mit einer größern Stadt schafft mehr
Intelligenz, mehr Unternehmungsgeist, mehr Sinn für Verbesserungen unter dem
Bauernstande, als wenn in jeder Feldmark ein Musterwirth eingesetzt wird.




Dagegen hat die Anlage der jetzt in Betrieb befindlichen Bahnen ein Capital von
mehr als 170 Millionen Thaler absorbirt. Hätte sich der Eisenbahnbau gleich¬
mäßiger über das Land vertheilt, so würde niemand darunter gelitten haben.
Da der Eisenbahnbau jedoch für die baltischen Provinzen bis jetzt von geringem
Nutzen gewesen ist, so konnte es nicht günstig aus den Zustand der schon ohnehin
Mangel an Capital und Credit fühlenden Landwirthschaft in diesen Gegenden
zurückwirken, wenn jene enorme Summe der directen Verwendung in der Land¬
wirthschaft und den Gewerben entzogen wurde.

Im allgemeinen scheint man in Preußen die Vorzüge eines erweiterten
Eisenbahn- und Chausseewesens nicht nach allen Seiten hin gehörig gewürdigt
zu haben. Chausseen, Kanäle und Eisenbahnen sind nicht blos Mittel, um Sachen
und Personen leichter von einem Orte nach dem andern zu schaffen, es sind zu¬
gleich wichtige Culturfvrderuugsmittel. Auf den Flügeln des Dampfes und auf
den Segeln der Schiffe schreitet die Cultur durch das Land. Dieser mittelbare
Gewinn ist ebenso wichtig wie der unmittelbare, der dnrch den erleichterten
Transport herbeigeführt wird. Es ist ein großei Unterschied zwischen dem Cultur-
zustande der Bevölkerungen in der Nähe der großen Land- und Wasserstraßen
und in isolirt gelegenen Landstrichen. Was hält den masurischen Bauern in der
Cultur soweit hinter seinen westlicheren Nachbarn zurück als die isolirte Lage
dieses Landestheiles? Man fühlt es in unsern östlichen Provinzen sehr wohl,
wie wichtig die Belebung des Verkehrs und die Kenntniß fremder Zustände für
den Culturfortschritt unter der ländlichen Bevölkerung sind. Wenn man vor
Jahren in der Provinz Preußen beabsichtigte, Bauernsöhne, die später das väter¬
liche Erbtheil übernehmen, für einige Zeit nach Gegenden zu senden, wo die
Landwirthschaft bereits auf einer höheren Stufe steht, wenn sich in der Provinz
Posen ein Wanderverein für Landwirthe gebildet hat, so deutet dies auf ein Be¬
dürfniß hin, welches durch die Belebung des Verkehrs überhaupt eine viel um¬
fassendere Befriedigung finden würde. Wo die Circulation lebhaft ist, da reißt
sich das Individuum häufiger von seiner Scholle los, fremde Vorbilder werden
leichter bekannt und leichter nachgeahmt, und es stellt sich von selbst eine praktische
Bildung ein, welche durch das trefflichste Schulwesen nicht erzeugt werden kann.
Eine Chaussee- oder Eisenbahnverbindung mit einer größern Stadt schafft mehr
Intelligenz, mehr Unternehmungsgeist, mehr Sinn für Verbesserungen unter dem
Bauernstande, als wenn in jeder Feldmark ein Musterwirth eingesetzt wird.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/110>, abgerufen am 03.07.2024.