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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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ans dem Streben nach Effecten herzuleiten. Eine Wiedergeburt der Poesie hält
er also nur dann für möglich, wenn man sich von diesen materiellen Problemen
abwendet und wieder zu dem Studium desjenigen, was eigentlich der Inhalt
aller Poesie sein muß, zum Studium des menschlichen Geistes zurückkehrt. Blanche
steht also keineswegs, wie ein andrer, sehr begabter Krittler, Nisard, auf dem
Standpunkt des einseitigen Classicismus, er rechnet es vielmehr der romeutischcu
Schule sehr hoch an, daß sie die Aufmerksamkeit auf die englischen, deutschen und
französischen Dichter gelenkt, und daß sie die Autorität der alten Kunstrichter er¬
schüttert hat, aber er läßt auch nur dieses Verdienst, die Geister in Bewegung
gesetzt zu haben, bei ihr gelten; einen positiven Gewinn findet er nur in der
freiern Behandlung des Versmaßes, nicht in ihrem Inhalt, denn um angeblich
die historische Wahrheit herzustellen, haben sie die allgemein menschliche Wahrheit
aufgeopfert, und dann wieder vergessen, was sie eigentlich wollten; an Stelle der
historischen Wahrheit haben sie wieder die Eingebungen ihrer Phantasie gesetzt.
Wir stimmen in allen diesen Punkten mit ihm völlig überein.

Eins aber vermissen wir bei ihm. Seine Kritik, so scharfsinnig und gerecht
sie meistens ist, bleibt doch einseitig beim Urtheil stehen. Er mißt die Kunst¬
werke, die er kritisirt, an dem Maßstab seiner Principien und spricht darnach Lob
oder Tadel ans. Das ist zwar allerdings bei der Kritik die Hauptsache, aber es
ist noch nicht Alles. Der Kritiker, der vollständig seine Aufgabe erfüllen will,
muß sein Urtheil nicht blos äußerlich aus feststehenden Principien schöpfen, sondern
er muß es zugleich ans dem Innern deö Kunstwerks herzuleiten suchen; er muß
sich also bemühe", den Proceß des Schaffens zu belauschen und zu analysiren.
Wenigstens ist das bei bedeutenderen Schöpfungen nothwendig; es bei der Be¬
urtheilung jedes beliebigen Machwerks zu verlangen, wäre eine Thorheit. Aber
Manche geht nur in den seltensten Fällen darauf aus. Er beschränkt das Recht
der Individualität zu sehr, und darum wird er wenigstens in seinen Formen
häufig trocken und ermüdend. Diese Trockenheit liegt keineswegs in seiner ästhe¬
tischen Empfänglichkeit, die vielmehr sehr vielseitig ist und sich allen Seiten des
Geistes gerne öffnet, aber er versäumt es, sie zu expliciren, und darum wird es
ihm wenigstens für den ersten Augenblick schwer, die öffentliche Meinung für sich
zu gewinnen. Er verletzt, ohne es zu wollen, denn er steht den Productionen
mit dem Anschein der Feindseligkeit, oder wenigstens der Fremdheit gegenüber.

In dieser Beziehung ist unter deu französischen Kritikern Se. Beuve sein
vollständiger Gegensatz. Se. Beuve hat eigentlich gar leine feste Principien,
sondern er geht lediglich darauf aus, sich das individuelle Kunstwerk zu vergegen¬
wärtigen; wo er ein Urtheil giebt, nimmt er es nur aus dem Instinkte. Freilich
macht er es nicht so, wie viele unsrer spirituellen Recensenten, die vollständig
ihrer Aufgabe zu genügen glauben, wenn sie ihre Sympathie oder Antipathie in
allerhand bunten Bildern oder in allerhand baroken Einfällen ausdrücken; er


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ans dem Streben nach Effecten herzuleiten. Eine Wiedergeburt der Poesie hält
er also nur dann für möglich, wenn man sich von diesen materiellen Problemen
abwendet und wieder zu dem Studium desjenigen, was eigentlich der Inhalt
aller Poesie sein muß, zum Studium des menschlichen Geistes zurückkehrt. Blanche
steht also keineswegs, wie ein andrer, sehr begabter Krittler, Nisard, auf dem
Standpunkt des einseitigen Classicismus, er rechnet es vielmehr der romeutischcu
Schule sehr hoch an, daß sie die Aufmerksamkeit auf die englischen, deutschen und
französischen Dichter gelenkt, und daß sie die Autorität der alten Kunstrichter er¬
schüttert hat, aber er läßt auch nur dieses Verdienst, die Geister in Bewegung
gesetzt zu haben, bei ihr gelten; einen positiven Gewinn findet er nur in der
freiern Behandlung des Versmaßes, nicht in ihrem Inhalt, denn um angeblich
die historische Wahrheit herzustellen, haben sie die allgemein menschliche Wahrheit
aufgeopfert, und dann wieder vergessen, was sie eigentlich wollten; an Stelle der
historischen Wahrheit haben sie wieder die Eingebungen ihrer Phantasie gesetzt.
Wir stimmen in allen diesen Punkten mit ihm völlig überein.

Eins aber vermissen wir bei ihm. Seine Kritik, so scharfsinnig und gerecht
sie meistens ist, bleibt doch einseitig beim Urtheil stehen. Er mißt die Kunst¬
werke, die er kritisirt, an dem Maßstab seiner Principien und spricht darnach Lob
oder Tadel ans. Das ist zwar allerdings bei der Kritik die Hauptsache, aber es
ist noch nicht Alles. Der Kritiker, der vollständig seine Aufgabe erfüllen will,
muß sein Urtheil nicht blos äußerlich aus feststehenden Principien schöpfen, sondern
er muß es zugleich ans dem Innern deö Kunstwerks herzuleiten suchen; er muß
sich also bemühe», den Proceß des Schaffens zu belauschen und zu analysiren.
Wenigstens ist das bei bedeutenderen Schöpfungen nothwendig; es bei der Be¬
urtheilung jedes beliebigen Machwerks zu verlangen, wäre eine Thorheit. Aber
Manche geht nur in den seltensten Fällen darauf aus. Er beschränkt das Recht
der Individualität zu sehr, und darum wird er wenigstens in seinen Formen
häufig trocken und ermüdend. Diese Trockenheit liegt keineswegs in seiner ästhe¬
tischen Empfänglichkeit, die vielmehr sehr vielseitig ist und sich allen Seiten des
Geistes gerne öffnet, aber er versäumt es, sie zu expliciren, und darum wird es
ihm wenigstens für den ersten Augenblick schwer, die öffentliche Meinung für sich
zu gewinnen. Er verletzt, ohne es zu wollen, denn er steht den Productionen
mit dem Anschein der Feindseligkeit, oder wenigstens der Fremdheit gegenüber.

In dieser Beziehung ist unter deu französischen Kritikern Se. Beuve sein
vollständiger Gegensatz. Se. Beuve hat eigentlich gar leine feste Principien,
sondern er geht lediglich darauf aus, sich das individuelle Kunstwerk zu vergegen¬
wärtigen; wo er ein Urtheil giebt, nimmt er es nur aus dem Instinkte. Freilich
macht er es nicht so, wie viele unsrer spirituellen Recensenten, die vollständig
ihrer Aufgabe zu genügen glauben, wenn sie ihre Sympathie oder Antipathie in
allerhand bunten Bildern oder in allerhand baroken Einfällen ausdrücken; er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/59>, abgerufen am 28.12.2024.