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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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letzten 2!i Jahren, auf die wir unsre Leser schon aus dem Grunde aufmerksam
macheu, weil das Meiste, was darin gesagt ist, sich auch auf unsre Zustände an-
wenden laßt. Namentlich finden wir sehr schon, was er über die Kritik sagt.
Ohne die Bedeutung der Kritik zu übertreiben, ohne namentlich in den Irrthum
zu verfallen, daß es ihr möglich sei, poetische Schöpfungen hervorzurufen, beweist
er doch, daß ihr eine sehr wichtige Stellung in der Entwickelung der Literatur
zukommt. Durch ein strenges, energisches Festhalten an den Prinzipien, durch
unermüdlichen Kampf gegen die falschen Tendenzen des Zeitalters bringt jsie es
endlich dahin, daß man ihr seine Aufmerksamkeit uicht länger versagen kann, daß
ihre Urtheile, die anfangs der öffentlichen Meinung als paradox erschienen, sich
in ein Gemeingut des Volks verwandeln. Gustave Manche hat um so mehr
Beruf, mit einem gewissen Selbstgefühl für das Recht der Kritik einzutreten, da
er seit zwanzig Jahren mir einer Consequenz ohne Gleichen die Pflichten des
Kritikers ausgeübt hat. Vou Seiten der Producenten und ihrer warmen An¬
hänger ist in früherer Zeit ein heftiger Kampf gegen ihn erhoben worden, man
hat ihn mit Zoilus verglichen ("Es ist ja so angenehm", sagt Manche, "sich
auf diese Weise dem Homer an die Seite zu stellen"); aber gegenwärtig sind in
der öffentlichen Meinung alle die ernsten und strengen Urtheile, die er namentlich
über die romantische Schule gefallt hat, fast unbedingt vom Publicum adoptirt.
"Es ist daher kein so großer Heroismus, als mau glaubt" sagt Blanche, "nicht
zu lügen."

Wie wenig die meisten anderen Kritiker ihre Pflicht gethan haben, wird uns
vortrefflich anSeiuandergescht. Wir können das alles Wort für Wort auf Deutsch¬
land anwenden. Abgesehen von den selten Scribenten und von den gutmüthigen
naiven Jünglingen, die vor jeder Production, oder wenigstens vor jeder Production
ihrer guten Freunde in Staunen und Bewunderung gerathen, setzt er namentlich
die Nachtheile eiuer Gattung von Kritikern auseinander, die nicht darauf
ausgehen, ein mit Gründe" belegtes bestimmtes Urtheil zu fällen, sondern das
Publicum durch Witz, durch Esprit, durch phantastische Bilder zu amüsiren. Der
Geschmack des Publicums wird durch diese Schriftsteller uicht blos uicht gefördert,
sondern er wird an Frivolität gewöhnt, an Gleichgiltigkeit gegen den Unterschied
des Schönen und Häßlichen, des Rechten und Unrechten. Diesen sogenannten
Feuilletonstyl der Kritik haben zwar die Franzosen erfunden, aber wir sind ihnen
redlich darin nachgefolgt und können zwar uicht an Jntensivität des Esprit, aber
wohl an Umfang der Faseleien mit ihnen wetteifern.

Den Hauptgrund für die Verwilderung der moderne" Literatur findet Manche
mit Recht in dem herrschenden Materialismus, d. h. in der Neigung, statt mit
der "Seele, sich mit der äußerlichen', zufälligen Welt zu beschäftigen, mit Costum,
Decoration, Architektur u. s. w., so wie in der untunstlerischen Methode, die
Dichtung nicht aus ihrem innersten Kern, aus der Idee und dem Gemüth, sondern


letzten 2!i Jahren, auf die wir unsre Leser schon aus dem Grunde aufmerksam
macheu, weil das Meiste, was darin gesagt ist, sich auch auf unsre Zustände an-
wenden laßt. Namentlich finden wir sehr schon, was er über die Kritik sagt.
Ohne die Bedeutung der Kritik zu übertreiben, ohne namentlich in den Irrthum
zu verfallen, daß es ihr möglich sei, poetische Schöpfungen hervorzurufen, beweist
er doch, daß ihr eine sehr wichtige Stellung in der Entwickelung der Literatur
zukommt. Durch ein strenges, energisches Festhalten an den Prinzipien, durch
unermüdlichen Kampf gegen die falschen Tendenzen des Zeitalters bringt jsie es
endlich dahin, daß man ihr seine Aufmerksamkeit uicht länger versagen kann, daß
ihre Urtheile, die anfangs der öffentlichen Meinung als paradox erschienen, sich
in ein Gemeingut des Volks verwandeln. Gustave Manche hat um so mehr
Beruf, mit einem gewissen Selbstgefühl für das Recht der Kritik einzutreten, da
er seit zwanzig Jahren mir einer Consequenz ohne Gleichen die Pflichten des
Kritikers ausgeübt hat. Vou Seiten der Producenten und ihrer warmen An¬
hänger ist in früherer Zeit ein heftiger Kampf gegen ihn erhoben worden, man
hat ihn mit Zoilus verglichen („Es ist ja so angenehm", sagt Manche, „sich
auf diese Weise dem Homer an die Seite zu stellen"); aber gegenwärtig sind in
der öffentlichen Meinung alle die ernsten und strengen Urtheile, die er namentlich
über die romantische Schule gefallt hat, fast unbedingt vom Publicum adoptirt.
„Es ist daher kein so großer Heroismus, als mau glaubt" sagt Blanche, „nicht
zu lügen."

Wie wenig die meisten anderen Kritiker ihre Pflicht gethan haben, wird uns
vortrefflich anSeiuandergescht. Wir können das alles Wort für Wort auf Deutsch¬
land anwenden. Abgesehen von den selten Scribenten und von den gutmüthigen
naiven Jünglingen, die vor jeder Production, oder wenigstens vor jeder Production
ihrer guten Freunde in Staunen und Bewunderung gerathen, setzt er namentlich
die Nachtheile eiuer Gattung von Kritikern auseinander, die nicht darauf
ausgehen, ein mit Gründe» belegtes bestimmtes Urtheil zu fällen, sondern das
Publicum durch Witz, durch Esprit, durch phantastische Bilder zu amüsiren. Der
Geschmack des Publicums wird durch diese Schriftsteller uicht blos uicht gefördert,
sondern er wird an Frivolität gewöhnt, an Gleichgiltigkeit gegen den Unterschied
des Schönen und Häßlichen, des Rechten und Unrechten. Diesen sogenannten
Feuilletonstyl der Kritik haben zwar die Franzosen erfunden, aber wir sind ihnen
redlich darin nachgefolgt und können zwar uicht an Jntensivität des Esprit, aber
wohl an Umfang der Faseleien mit ihnen wetteifern.

Den Hauptgrund für die Verwilderung der moderne» Literatur findet Manche
mit Recht in dem herrschenden Materialismus, d. h. in der Neigung, statt mit
der »Seele, sich mit der äußerlichen', zufälligen Welt zu beschäftigen, mit Costum,
Decoration, Architektur u. s. w., so wie in der untunstlerischen Methode, die
Dichtung nicht aus ihrem innersten Kern, aus der Idee und dem Gemüth, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/58>, abgerufen am 28.12.2024.