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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Tage geschehen, -- wenn der Herr Minister nnr nicht das Wort "Wahrheit"
in seine Rede gemengt hätte. Wenn man einem Vorurtheil, welches zu den
schändlichsten und empörendsten Thaten verleitet, von denen die Geschichte der
Menschheit Kunde giebt, -- wenn man einem solchen Vorurtheil Rechnung trägt,
dann trägt man der Wahrheit Rechnung? Freilich, wenn man die Logik über
den Haufen wirft, warum soll man nicht den Sprachgebrauch umstürzen, und das
Vorurtheil eine Wahrheit, und die Wahrheit el" Vorurtheil nennen? Wenn der
Herzog fallen muß, sobald der Mantel fällt, -- warum wundern wir uns, wenn
verlangt wird, daß auch der Mantel falle, sobald der Herzog gefallen ist?

Wenn es die ernste Meinung des Herrn Ministers ist, daß da, wo Aber-
glauben und Vorurtheile in einem Volke herrschen, die Gesetzgebung des Landes
ans dieselben, nicht um ihnen entgegenzuarbeiten, sondern um ihnen Form und
Ausdruck zu geben, Rücksicht nehmen müsse, so war doch unter allen Umständen
hier nicht der Ort dazu. Communalbeamtc werden gewählt. Wo jene Vorur-
theile gegen den jüdischen Stamm wirklich herrschen, werden Juden nicht gewählt
werde"; da ist also ein Verbot überflüssig. Wo sie aber gewählt werden, da
herrschen jene Vorurtheile augenscheinlich nicht; da fällt also das Motiv zu einem
solchen Verbot fort. Wir fragen nun, ganz abgesehen von von dem, was der
Dienst der "Wahrheit" erheischt, heißt es den wirklichen Verhältnissen Rech¬
nung tragen, wenn man um des niedern Bildungsgrades willen gesetzliche Ein¬
schränkungen feststellt, welche die von Vorurtheilen Befangenen sich von selbst
auflegen, und diese Einschränkungen mich auf solche Kreise ausdehnt, in welchen
sie, der weiter vorgeschrittenen Bildung und Gesittung gegenüber, uicht gerecht¬
fertigt erscheine"? Oder ist mir der Maugel an Cultur, jeder Nest mittelalter¬
licher Barbarei ein der Berücksichtigung werthes Element, Bildung und aufge¬
klärter Sinn aber nicht? Und ist die Civilisation so wenig werth, daß ihre
Grundsätze durch gesetzliche Bestimmungen selbst da verletzt zu werden verdienen,
wo dergleichen Bestimmungen zur Regelung der Unvernunft nicht erforderlich
sind? Es ist traurig, daß man noch im neunzehnte" Jahrhundert solche Fragen
auswerfen muß.

Als ich Ihnen vor Kurzem schrieb, daß in Folge der Aeußerungen des Abg.
Aldenhoven das Ministerium wahrscheinlich einen Gesetzentwurf zur Einschränkung
der Redefreiheit einbringen werde, übersah ich uoch nicht, daß die Art, die Ver¬
fassung zu behandeln, in ein neues Stadium getreten war, daß die neue Jnter-
pretatiousmcthode in Schwung gekommen war, für die ich Ihnen im Eingange
meines Briefs ein Beispiel gab. Daß mau allgemeine Grundsätze der Ver¬
fassung, vou denen in der Verfassung selbst einzelne bestimmte Ausnahmen statuirt
waren, nach Analogie dieser Ausnahmen auch noch weiter einschränken zu dürfen
glaubte, ist alte Praxis; zu ihrer VervoWändignug war noch erforderlich, daß,
wo es besser couvenirte, auch das Gegentheil in Uebung gebracht wurde, daß


Tage geschehen, — wenn der Herr Minister nnr nicht das Wort „Wahrheit"
in seine Rede gemengt hätte. Wenn man einem Vorurtheil, welches zu den
schändlichsten und empörendsten Thaten verleitet, von denen die Geschichte der
Menschheit Kunde giebt, — wenn man einem solchen Vorurtheil Rechnung trägt,
dann trägt man der Wahrheit Rechnung? Freilich, wenn man die Logik über
den Haufen wirft, warum soll man nicht den Sprachgebrauch umstürzen, und das
Vorurtheil eine Wahrheit, und die Wahrheit el» Vorurtheil nennen? Wenn der
Herzog fallen muß, sobald der Mantel fällt, — warum wundern wir uns, wenn
verlangt wird, daß auch der Mantel falle, sobald der Herzog gefallen ist?

Wenn es die ernste Meinung des Herrn Ministers ist, daß da, wo Aber-
glauben und Vorurtheile in einem Volke herrschen, die Gesetzgebung des Landes
ans dieselben, nicht um ihnen entgegenzuarbeiten, sondern um ihnen Form und
Ausdruck zu geben, Rücksicht nehmen müsse, so war doch unter allen Umständen
hier nicht der Ort dazu. Communalbeamtc werden gewählt. Wo jene Vorur-
theile gegen den jüdischen Stamm wirklich herrschen, werden Juden nicht gewählt
werde»; da ist also ein Verbot überflüssig. Wo sie aber gewählt werden, da
herrschen jene Vorurtheile augenscheinlich nicht; da fällt also das Motiv zu einem
solchen Verbot fort. Wir fragen nun, ganz abgesehen von von dem, was der
Dienst der „Wahrheit" erheischt, heißt es den wirklichen Verhältnissen Rech¬
nung tragen, wenn man um des niedern Bildungsgrades willen gesetzliche Ein¬
schränkungen feststellt, welche die von Vorurtheilen Befangenen sich von selbst
auflegen, und diese Einschränkungen mich auf solche Kreise ausdehnt, in welchen
sie, der weiter vorgeschrittenen Bildung und Gesittung gegenüber, uicht gerecht¬
fertigt erscheine»? Oder ist mir der Maugel an Cultur, jeder Nest mittelalter¬
licher Barbarei ein der Berücksichtigung werthes Element, Bildung und aufge¬
klärter Sinn aber nicht? Und ist die Civilisation so wenig werth, daß ihre
Grundsätze durch gesetzliche Bestimmungen selbst da verletzt zu werden verdienen,
wo dergleichen Bestimmungen zur Regelung der Unvernunft nicht erforderlich
sind? Es ist traurig, daß man noch im neunzehnte» Jahrhundert solche Fragen
auswerfen muß.

Als ich Ihnen vor Kurzem schrieb, daß in Folge der Aeußerungen des Abg.
Aldenhoven das Ministerium wahrscheinlich einen Gesetzentwurf zur Einschränkung
der Redefreiheit einbringen werde, übersah ich uoch nicht, daß die Art, die Ver¬
fassung zu behandeln, in ein neues Stadium getreten war, daß die neue Jnter-
pretatiousmcthode in Schwung gekommen war, für die ich Ihnen im Eingange
meines Briefs ein Beispiel gab. Daß mau allgemeine Grundsätze der Ver¬
fassung, vou denen in der Verfassung selbst einzelne bestimmte Ausnahmen statuirt
waren, nach Analogie dieser Ausnahmen auch noch weiter einschränken zu dürfen
glaubte, ist alte Praxis; zu ihrer VervoWändignug war noch erforderlich, daß,
wo es besser couvenirte, auch das Gegentheil in Uebung gebracht wurde, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/477>, abgerufen am 04.07.2024.