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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Kraft tritt, als wäre es durch keine Rücksicht auf die Verfassung modificirt worden.
Die in das Gesetz aufgenommene Clausel, durch welche die zweite Kammer den
Widerspruch zwischen dem ständischen System und dem durch die Verfassung be¬
gründeten Rechtszustand zu beseitigen suchte, wird für die realen Verhältnisse
wirkungslos sei"; sie wird lediglich dazu beitragen, den schreienden Gegensatz
zwischen unsern factischen und rechtlichen Zuständen "och mehr bloß zu legen, und
in künftigen Sessionen Veranlassung zu Kontroversen geben, bei denen das Recht
auf Seite" der Linken, der durch die Abstimmung erfochtene Sieg auf Seiten
derjenigen Partei sein wird, welche um der Autorität willen die Majorität so
sehr verachtet.

Und diese Controversen werden zu eiuer neuen und unerhörten Verfassnngs-
iuterprctation, von der wir schon in den jetzigen Verhandlungen Spuren finden,
Veranlassung geben. Wenn die Verfassung "Standesvorrechte" aufhebt, so ist es
für Jeden, der sich die Verhältnisse vergegenwärtigt, denen gegenüber die Ver¬
fassung neue Zustände begründen wollte, unzweifelhaft, das" darunter in erster
Linie die politischen Vorrechte der vormärzlichen Rittergutsbesitzer gemeint find.
Vor zwei Jahren würde man es demgemäß bei einer Wiedereinführung der
alten Krcisordnuug für unvermeidlich gehalten haben, die erwähnte Verfassungs-
bestimmung zu beseitigen. Aber in einer Zeit, i" welcher der Wechsel der politi¬
schen Ansichten als el" Kriterium echter Staatsweisheit betrachtet wird, hat auch
die Meinung von dem Wesen der Verfassung eine andere Gestalt gewonnen.
Man hat sich von dem Willen, die Versass""g nach ihrem Geist auszulegen,
bereits entfernt, daß man sich mit jeder, nur irgend möglichen Auslegung zufrie¬
den stellt. Nun ist es zwar "icht zu läugne", daß das Virilstimmenrecht-der
Rittergutsbesitzer auf de" Kreistagen zu den "StandeSvvrrcchteu" gehört, welche
die Verfassung aufheben wollte; allein-- so wirb der Minister des Innern "ach Jahr
und Tag spreche" -- es ist eine andre Denttmg zulässig; Rittergüter können zur
Zeit anch von Bürgerliche" acg"irirt werden; das aus ihnen haftende Virilstim-
mcnrecht ist also kein Standesvorrecht, ist also nicht durch die Verfassung auf¬
gehoben. So wird, trotz der Klausel, daß die ständische Gesetzgebung nur so
weit, als sie nicht der Verfassung widerspricht, wieder hergestellt werde" soll,
Alles bleiben, wie es war, als hätte i" Preuße" "le eine Verfassung existirt.
Die Gewissen der Abgeordnete", welche jetzt die Majorität bilde", fühle" sich
vollkommen beruhigt, wen" die Verfassung zwar nicht "ach ihrem wirklichen, aber
doch nach einem möglichen Sinn interpretirt wird. Die nächste Entwickelung^
Phase brauche ich nicht zu bezeichne".

El"an wirklichen Sieg hat dagegen die Linke durch Ablehnung der zwei¬
jährigen Einberufung der Kammern errungen. Trotz der geräuschvolle" Thätig¬
keit der Landtage, und obgleich der Minister des Innern in jeder sei"er Reden
sich mehrmals auf das Gutachte" der Landtage berief, ist es doch nicht gelungen,


Kraft tritt, als wäre es durch keine Rücksicht auf die Verfassung modificirt worden.
Die in das Gesetz aufgenommene Clausel, durch welche die zweite Kammer den
Widerspruch zwischen dem ständischen System und dem durch die Verfassung be¬
gründeten Rechtszustand zu beseitigen suchte, wird für die realen Verhältnisse
wirkungslos sei»; sie wird lediglich dazu beitragen, den schreienden Gegensatz
zwischen unsern factischen und rechtlichen Zuständen »och mehr bloß zu legen, und
in künftigen Sessionen Veranlassung zu Kontroversen geben, bei denen das Recht
auf Seite» der Linken, der durch die Abstimmung erfochtene Sieg auf Seiten
derjenigen Partei sein wird, welche um der Autorität willen die Majorität so
sehr verachtet.

Und diese Controversen werden zu eiuer neuen und unerhörten Verfassnngs-
iuterprctation, von der wir schon in den jetzigen Verhandlungen Spuren finden,
Veranlassung geben. Wenn die Verfassung „Standesvorrechte" aufhebt, so ist es
für Jeden, der sich die Verhältnisse vergegenwärtigt, denen gegenüber die Ver¬
fassung neue Zustände begründen wollte, unzweifelhaft, das» darunter in erster
Linie die politischen Vorrechte der vormärzlichen Rittergutsbesitzer gemeint find.
Vor zwei Jahren würde man es demgemäß bei einer Wiedereinführung der
alten Krcisordnuug für unvermeidlich gehalten haben, die erwähnte Verfassungs-
bestimmung zu beseitigen. Aber in einer Zeit, i» welcher der Wechsel der politi¬
schen Ansichten als el» Kriterium echter Staatsweisheit betrachtet wird, hat auch
die Meinung von dem Wesen der Verfassung eine andere Gestalt gewonnen.
Man hat sich von dem Willen, die Versass»»g nach ihrem Geist auszulegen,
bereits entfernt, daß man sich mit jeder, nur irgend möglichen Auslegung zufrie¬
den stellt. Nun ist es zwar »icht zu läugne», daß das Virilstimmenrecht-der
Rittergutsbesitzer auf de» Kreistagen zu den „StandeSvvrrcchteu" gehört, welche
die Verfassung aufheben wollte; allein— so wirb der Minister des Innern »ach Jahr
und Tag spreche» — es ist eine andre Denttmg zulässig; Rittergüter können zur
Zeit anch von Bürgerliche» acg»irirt werden; das aus ihnen haftende Virilstim-
mcnrecht ist also kein Standesvorrecht, ist also nicht durch die Verfassung auf¬
gehoben. So wird, trotz der Klausel, daß die ständische Gesetzgebung nur so
weit, als sie nicht der Verfassung widerspricht, wieder hergestellt werde» soll,
Alles bleiben, wie es war, als hätte i» Preuße» »le eine Verfassung existirt.
Die Gewissen der Abgeordnete», welche jetzt die Majorität bilde», fühle» sich
vollkommen beruhigt, wen» die Verfassung zwar nicht »ach ihrem wirklichen, aber
doch nach einem möglichen Sinn interpretirt wird. Die nächste Entwickelung^
Phase brauche ich nicht zu bezeichne».

El»an wirklichen Sieg hat dagegen die Linke durch Ablehnung der zwei¬
jährigen Einberufung der Kammern errungen. Trotz der geräuschvolle» Thätig¬
keit der Landtage, und obgleich der Minister des Innern in jeder sei»er Reden
sich mehrmals auf das Gutachte» der Landtage berief, ist es doch nicht gelungen,


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[0352] Kraft tritt, als wäre es durch keine Rücksicht auf die Verfassung modificirt worden. Die in das Gesetz aufgenommene Clausel, durch welche die zweite Kammer den Widerspruch zwischen dem ständischen System und dem durch die Verfassung be¬ gründeten Rechtszustand zu beseitigen suchte, wird für die realen Verhältnisse wirkungslos sei»; sie wird lediglich dazu beitragen, den schreienden Gegensatz zwischen unsern factischen und rechtlichen Zuständen »och mehr bloß zu legen, und in künftigen Sessionen Veranlassung zu Kontroversen geben, bei denen das Recht auf Seite» der Linken, der durch die Abstimmung erfochtene Sieg auf Seiten derjenigen Partei sein wird, welche um der Autorität willen die Majorität so sehr verachtet. Und diese Controversen werden zu eiuer neuen und unerhörten Verfassnngs- iuterprctation, von der wir schon in den jetzigen Verhandlungen Spuren finden, Veranlassung geben. Wenn die Verfassung „Standesvorrechte" aufhebt, so ist es für Jeden, der sich die Verhältnisse vergegenwärtigt, denen gegenüber die Ver¬ fassung neue Zustände begründen wollte, unzweifelhaft, das» darunter in erster Linie die politischen Vorrechte der vormärzlichen Rittergutsbesitzer gemeint find. Vor zwei Jahren würde man es demgemäß bei einer Wiedereinführung der alten Krcisordnuug für unvermeidlich gehalten haben, die erwähnte Verfassungs- bestimmung zu beseitigen. Aber in einer Zeit, i» welcher der Wechsel der politi¬ schen Ansichten als el» Kriterium echter Staatsweisheit betrachtet wird, hat auch die Meinung von dem Wesen der Verfassung eine andere Gestalt gewonnen. Man hat sich von dem Willen, die Versass»»g nach ihrem Geist auszulegen, bereits entfernt, daß man sich mit jeder, nur irgend möglichen Auslegung zufrie¬ den stellt. Nun ist es zwar »icht zu läugne», daß das Virilstimmenrecht-der Rittergutsbesitzer auf de» Kreistagen zu den „StandeSvvrrcchteu" gehört, welche die Verfassung aufheben wollte; allein— so wirb der Minister des Innern »ach Jahr und Tag spreche» — es ist eine andre Denttmg zulässig; Rittergüter können zur Zeit anch von Bürgerliche» acg»irirt werden; das aus ihnen haftende Virilstim- mcnrecht ist also kein Standesvorrecht, ist also nicht durch die Verfassung auf¬ gehoben. So wird, trotz der Klausel, daß die ständische Gesetzgebung nur so weit, als sie nicht der Verfassung widerspricht, wieder hergestellt werde» soll, Alles bleiben, wie es war, als hätte i» Preuße» »le eine Verfassung existirt. Die Gewissen der Abgeordnete», welche jetzt die Majorität bilde», fühle» sich vollkommen beruhigt, wen» die Verfassung zwar nicht »ach ihrem wirklichen, aber doch nach einem möglichen Sinn interpretirt wird. Die nächste Entwickelung^ Phase brauche ich nicht zu bezeichne». El»an wirklichen Sieg hat dagegen die Linke durch Ablehnung der zwei¬ jährigen Einberufung der Kammern errungen. Trotz der geräuschvolle» Thätig¬ keit der Landtage, und obgleich der Minister des Innern in jeder sei»er Reden sich mehrmals auf das Gutachte» der Landtage berief, ist es doch nicht gelungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/352>, abgerufen am 24.07.2024.