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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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daß wir in der Behauptung, es sei 18S0 der Bruch mit der Revolution erfolgt,
nur eine leere Phrase erkennen können.

Es ist zwar zugleich mit der Aufhebung der Gesetze von 1830 die Reacti-
virung der frühern ständischen Gesetzgebung erfolgt, aber nur in so weit, als
diese der Verfassung nicht widerspricht. Soll diese Bedingung irgend eine Be¬
deutung haben, so hat man eine klare Rechtsgrundlage durch ein Unmögliches
und Undenkbares ersetzt. Denn die ständische Gesetzgebung widerspricht gerade
in ihren wesentlichsten Bestimmungen der Verfassung; natürlich, denn die Be-
strebungen, denen die Verfassung ihren Ursprung verdankt, waren hauptsächlich
gegen das System der ständischen Gliederung gerichtet, und sowol die positiven,
wie die negativen Grundsätze der Verfassung bezwecken naturgemäß direct oder
indirect die Beseitigung des Zustandes, dessen Gegner in der Sanction der Ver-
fassungsurkunde ihren Sieg.feierten. Es liegt in der Natur der Sache, daß
eine Urkunde, welche zur Beseitigung eines alten und zur Begründung eines
neuen Rechtszustandes festgestellt wird, gerade an solchen Bestimmungen reich ist,
welche die Umgestaltung des bisher Bestehenden betreffen, welche die bisher
leitenden Principien ausdrücklich negiren, oder durch abweichende ersetzen. So
ist auch unsere Verfassung hauptsächlich gegen das System der ständischen Glie¬
derung gerichtet; und dieses herstellen, so weit es der Verfassung nicht wider¬
spricht, ist ein vollkommener Widerspruch, der für den Weisen, wie für den
Thoren gleich unlösbar ist. Beseitigung des ständischen Systems war eben der
Zweck der Verfassung; deshalb sind die Verfassung und das Ständewcse" un¬
vereinbare Gegensätze.

Der Widerspruch wird auch dann nicht gehoben, wenn Artikel 105 der Ver¬
fassung, der die Grundzüge für eine Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfafsuug
feststellt, beseitigt wird, wie es die Kammer in der vergangenen Woche beschlossen
hat. Wenn dieser Artikel der einzige wäre, der sich im Widerspruch mit der
ständischen Gesetzgebung befände, so würde man diese durch die Beseitigung jenes
Artikels allerdings möglich gemacht haben. Allein die Verfassung hebt in andern
Artikeln Standesvorrechte, erbliche Berechtigungen, mögen sie an der Familie
oder am Grundbesitz haften, die Hintansetzung gewisser Religionsbekenntnisse n.s.s.
auf; und gerade diese Bestimmungen bilden den Kern und das Charakteristische
unserer vormärzlichen Gemeinde-, Kreis- und Prvvinzialversassung. Auch nach
Beseitigung des Art. l0l> bleiben in der Verfassung zahlreiche Bestimmungen, mit
denen die Reactivirung der vormärzlichen Organe in directen Widerspruch stehen
würde. Die ganze Zusammensetzung der vormärzlichen Kreis- und Landtage ist
verfassungsmäßig nicht zulässig, d. h. die ständische Gesetzgebung kann ohne vor¬
herige durchgreifende Umänderung der Verfassung nicht in's Leben treten.

Die thatsächliche Folge der Beschlüsse, welche die zweite Kammer in der
vergangenen Woche gesaßt hat, wird darin bestehen, daß das Vormärzliche in


daß wir in der Behauptung, es sei 18S0 der Bruch mit der Revolution erfolgt,
nur eine leere Phrase erkennen können.

Es ist zwar zugleich mit der Aufhebung der Gesetze von 1830 die Reacti-
virung der frühern ständischen Gesetzgebung erfolgt, aber nur in so weit, als
diese der Verfassung nicht widerspricht. Soll diese Bedingung irgend eine Be¬
deutung haben, so hat man eine klare Rechtsgrundlage durch ein Unmögliches
und Undenkbares ersetzt. Denn die ständische Gesetzgebung widerspricht gerade
in ihren wesentlichsten Bestimmungen der Verfassung; natürlich, denn die Be-
strebungen, denen die Verfassung ihren Ursprung verdankt, waren hauptsächlich
gegen das System der ständischen Gliederung gerichtet, und sowol die positiven,
wie die negativen Grundsätze der Verfassung bezwecken naturgemäß direct oder
indirect die Beseitigung des Zustandes, dessen Gegner in der Sanction der Ver-
fassungsurkunde ihren Sieg.feierten. Es liegt in der Natur der Sache, daß
eine Urkunde, welche zur Beseitigung eines alten und zur Begründung eines
neuen Rechtszustandes festgestellt wird, gerade an solchen Bestimmungen reich ist,
welche die Umgestaltung des bisher Bestehenden betreffen, welche die bisher
leitenden Principien ausdrücklich negiren, oder durch abweichende ersetzen. So
ist auch unsere Verfassung hauptsächlich gegen das System der ständischen Glie¬
derung gerichtet; und dieses herstellen, so weit es der Verfassung nicht wider¬
spricht, ist ein vollkommener Widerspruch, der für den Weisen, wie für den
Thoren gleich unlösbar ist. Beseitigung des ständischen Systems war eben der
Zweck der Verfassung; deshalb sind die Verfassung und das Ständewcse» un¬
vereinbare Gegensätze.

Der Widerspruch wird auch dann nicht gehoben, wenn Artikel 105 der Ver¬
fassung, der die Grundzüge für eine Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfafsuug
feststellt, beseitigt wird, wie es die Kammer in der vergangenen Woche beschlossen
hat. Wenn dieser Artikel der einzige wäre, der sich im Widerspruch mit der
ständischen Gesetzgebung befände, so würde man diese durch die Beseitigung jenes
Artikels allerdings möglich gemacht haben. Allein die Verfassung hebt in andern
Artikeln Standesvorrechte, erbliche Berechtigungen, mögen sie an der Familie
oder am Grundbesitz haften, die Hintansetzung gewisser Religionsbekenntnisse n.s.s.
auf; und gerade diese Bestimmungen bilden den Kern und das Charakteristische
unserer vormärzlichen Gemeinde-, Kreis- und Prvvinzialversassung. Auch nach
Beseitigung des Art. l0l> bleiben in der Verfassung zahlreiche Bestimmungen, mit
denen die Reactivirung der vormärzlichen Organe in directen Widerspruch stehen
würde. Die ganze Zusammensetzung der vormärzlichen Kreis- und Landtage ist
verfassungsmäßig nicht zulässig, d. h. die ständische Gesetzgebung kann ohne vor¬
herige durchgreifende Umänderung der Verfassung nicht in's Leben treten.

Die thatsächliche Folge der Beschlüsse, welche die zweite Kammer in der
vergangenen Woche gesaßt hat, wird darin bestehen, daß das Vormärzliche in


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[0351] daß wir in der Behauptung, es sei 18S0 der Bruch mit der Revolution erfolgt, nur eine leere Phrase erkennen können. Es ist zwar zugleich mit der Aufhebung der Gesetze von 1830 die Reacti- virung der frühern ständischen Gesetzgebung erfolgt, aber nur in so weit, als diese der Verfassung nicht widerspricht. Soll diese Bedingung irgend eine Be¬ deutung haben, so hat man eine klare Rechtsgrundlage durch ein Unmögliches und Undenkbares ersetzt. Denn die ständische Gesetzgebung widerspricht gerade in ihren wesentlichsten Bestimmungen der Verfassung; natürlich, denn die Be- strebungen, denen die Verfassung ihren Ursprung verdankt, waren hauptsächlich gegen das System der ständischen Gliederung gerichtet, und sowol die positiven, wie die negativen Grundsätze der Verfassung bezwecken naturgemäß direct oder indirect die Beseitigung des Zustandes, dessen Gegner in der Sanction der Ver- fassungsurkunde ihren Sieg.feierten. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Urkunde, welche zur Beseitigung eines alten und zur Begründung eines neuen Rechtszustandes festgestellt wird, gerade an solchen Bestimmungen reich ist, welche die Umgestaltung des bisher Bestehenden betreffen, welche die bisher leitenden Principien ausdrücklich negiren, oder durch abweichende ersetzen. So ist auch unsere Verfassung hauptsächlich gegen das System der ständischen Glie¬ derung gerichtet; und dieses herstellen, so weit es der Verfassung nicht wider¬ spricht, ist ein vollkommener Widerspruch, der für den Weisen, wie für den Thoren gleich unlösbar ist. Beseitigung des ständischen Systems war eben der Zweck der Verfassung; deshalb sind die Verfassung und das Ständewcse» un¬ vereinbare Gegensätze. Der Widerspruch wird auch dann nicht gehoben, wenn Artikel 105 der Ver¬ fassung, der die Grundzüge für eine Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfafsuug feststellt, beseitigt wird, wie es die Kammer in der vergangenen Woche beschlossen hat. Wenn dieser Artikel der einzige wäre, der sich im Widerspruch mit der ständischen Gesetzgebung befände, so würde man diese durch die Beseitigung jenes Artikels allerdings möglich gemacht haben. Allein die Verfassung hebt in andern Artikeln Standesvorrechte, erbliche Berechtigungen, mögen sie an der Familie oder am Grundbesitz haften, die Hintansetzung gewisser Religionsbekenntnisse n.s.s. auf; und gerade diese Bestimmungen bilden den Kern und das Charakteristische unserer vormärzlichen Gemeinde-, Kreis- und Prvvinzialversassung. Auch nach Beseitigung des Art. l0l> bleiben in der Verfassung zahlreiche Bestimmungen, mit denen die Reactivirung der vormärzlichen Organe in directen Widerspruch stehen würde. Die ganze Zusammensetzung der vormärzlichen Kreis- und Landtage ist verfassungsmäßig nicht zulässig, d. h. die ständische Gesetzgebung kann ohne vor¬ herige durchgreifende Umänderung der Verfassung nicht in's Leben treten. Die thatsächliche Folge der Beschlüsse, welche die zweite Kammer in der vergangenen Woche gesaßt hat, wird darin bestehen, daß das Vormärzliche in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/351>, abgerufen am 28.12.2024.