Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Compositionen Zelter's allen übrigen vorzog, gewiß, weil sie zu seinen Ge¬
dichten wenig Musik als möglich hinzubrachten. Es nützt nichts, an den Künst-
ler der Ankunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stelle",
welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt. Denn man
verwechsle doch um Gotteswillen die schaffende Kraft des Genies, welche allein
wahrhafte Kunstwerke hervorzubringen im Stande ist, nicht mit Bildung, die aller¬
dings einer an Universalität gränzenden Vielseitigkeit fähig ist. In einer Zeit,
wie die unsrige, deren geistige Atmosphäre mit Bildungselementen allerArt ge¬
sättigt ist, kann auch ein mäßiges Talent, wenn es mit einiger Beweglichkeit und
Geschicklichkeit verbunden ist, sich leicht so viel ästhetische Bildung erwerben, daß es
einem Stoffe poetische Motive ansieht und in der gebildeten Sprache, "die für
ihn dichtet und denkt" ihn in leidlichen Versen behandelt. Auch die Musik ist
durch die Leistungen der großen Meister, welche sie mit staunenswerther Energie
und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade
Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung
einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht
viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren.
Mit einigen der bildenden Künste ist es ziemlich ebenso weit gekommen, und mau
betrachte nur die gebildeten Einwohner der größeren Städte, worin setzen sie ihre
Bildung anders als in die universelle Fähigkeit, Poesie, Musik und bildende Kunst
zu genießen, zu verstehen, und wenigstens in einigen auch selbst zu produciren?
Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und We¬
sen von der Kunst verschiede", die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht,
und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke
unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt
unverrückt.

Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit
sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik
ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus,
wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt.
Daß er in diese universelle Bildung das wahre Wesen der Kunst setzt, ist die na¬
türliche Folge seiner Meinung, daß er ein großer Künstler sei; da es zur Zeit
noch durch nichts geboten ist, dieses Postulat zuzugeben, so wird man vorläufig
auch nicht genöthigt sein, den Begriff der Kunst von ihm zu abstrahiren.

Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch d. h.
in jedem Momente charakteristisch sei. So allgemein ist der Satz richtig, es
kommt Alles darauf an, wie er künstlerisch ausgeführt und lebendig geworden ist.
Nun ist bekannt genug, wie häufig in den meisten Opern diese Forderung außer
Augen gesetzt ist, und mau begreift, wie Jemand, der gegen diesen Mißbrauch eifert,
in seinem Eifer zu weit geht und auch das Erlaubte, selbst das Treffliche hinausweist.


die Compositionen Zelter's allen übrigen vorzog, gewiß, weil sie zu seinen Ge¬
dichten wenig Musik als möglich hinzubrachten. Es nützt nichts, an den Künst-
ler der Ankunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stelle»,
welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt. Denn man
verwechsle doch um Gotteswillen die schaffende Kraft des Genies, welche allein
wahrhafte Kunstwerke hervorzubringen im Stande ist, nicht mit Bildung, die aller¬
dings einer an Universalität gränzenden Vielseitigkeit fähig ist. In einer Zeit,
wie die unsrige, deren geistige Atmosphäre mit Bildungselementen allerArt ge¬
sättigt ist, kann auch ein mäßiges Talent, wenn es mit einiger Beweglichkeit und
Geschicklichkeit verbunden ist, sich leicht so viel ästhetische Bildung erwerben, daß es
einem Stoffe poetische Motive ansieht und in der gebildeten Sprache, „die für
ihn dichtet und denkt" ihn in leidlichen Versen behandelt. Auch die Musik ist
durch die Leistungen der großen Meister, welche sie mit staunenswerther Energie
und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade
Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung
einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht
viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren.
Mit einigen der bildenden Künste ist es ziemlich ebenso weit gekommen, und mau
betrachte nur die gebildeten Einwohner der größeren Städte, worin setzen sie ihre
Bildung anders als in die universelle Fähigkeit, Poesie, Musik und bildende Kunst
zu genießen, zu verstehen, und wenigstens in einigen auch selbst zu produciren?
Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und We¬
sen von der Kunst verschiede», die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht,
und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke
unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt
unverrückt.

Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit
sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik
ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus,
wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt.
Daß er in diese universelle Bildung das wahre Wesen der Kunst setzt, ist die na¬
türliche Folge seiner Meinung, daß er ein großer Künstler sei; da es zur Zeit
noch durch nichts geboten ist, dieses Postulat zuzugeben, so wird man vorläufig
auch nicht genöthigt sein, den Begriff der Kunst von ihm zu abstrahiren.

Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch d. h.
in jedem Momente charakteristisch sei. So allgemein ist der Satz richtig, es
kommt Alles darauf an, wie er künstlerisch ausgeführt und lebendig geworden ist.
Nun ist bekannt genug, wie häufig in den meisten Opern diese Forderung außer
Augen gesetzt ist, und mau begreift, wie Jemand, der gegen diesen Mißbrauch eifert,
in seinem Eifer zu weit geht und auch das Erlaubte, selbst das Treffliche hinausweist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0340" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186216"/>
          <p xml:id="ID_1055" prev="#ID_1054"> die Compositionen Zelter's allen übrigen vorzog, gewiß, weil sie zu seinen Ge¬<lb/>
dichten wenig Musik als möglich hinzubrachten. Es nützt nichts, an den Künst-<lb/>
ler der Ankunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stelle»,<lb/>
welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt. Denn man<lb/>
verwechsle doch um Gotteswillen die schaffende Kraft des Genies, welche allein<lb/>
wahrhafte Kunstwerke hervorzubringen im Stande ist, nicht mit Bildung, die aller¬<lb/>
dings einer an Universalität gränzenden Vielseitigkeit fähig ist. In einer Zeit,<lb/>
wie die unsrige, deren geistige Atmosphäre mit Bildungselementen allerArt ge¬<lb/>
sättigt ist, kann auch ein mäßiges Talent, wenn es mit einiger Beweglichkeit und<lb/>
Geschicklichkeit verbunden ist, sich leicht so viel ästhetische Bildung erwerben, daß es<lb/>
einem Stoffe poetische Motive ansieht und in der gebildeten Sprache, &#x201E;die für<lb/>
ihn dichtet und denkt" ihn in leidlichen Versen behandelt. Auch die Musik ist<lb/>
durch die Leistungen der großen Meister, welche sie mit staunenswerther Energie<lb/>
und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade<lb/>
Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung<lb/>
einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht<lb/>
viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren.<lb/>
Mit einigen der bildenden Künste ist es ziemlich ebenso weit gekommen, und mau<lb/>
betrachte nur die gebildeten Einwohner der größeren Städte, worin setzen sie ihre<lb/>
Bildung anders als in die universelle Fähigkeit, Poesie, Musik und bildende Kunst<lb/>
zu genießen, zu verstehen, und wenigstens in einigen auch selbst zu produciren?<lb/>
Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und We¬<lb/>
sen von der Kunst verschiede», die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht,<lb/>
und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke<lb/>
unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt<lb/>
unverrückt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1056"> Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit<lb/>
sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik<lb/>
ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus,<lb/>
wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt.<lb/>
Daß er in diese universelle Bildung das wahre Wesen der Kunst setzt, ist die na¬<lb/>
türliche Folge seiner Meinung, daß er ein großer Künstler sei; da es zur Zeit<lb/>
noch durch nichts geboten ist, dieses Postulat zuzugeben, so wird man vorläufig<lb/>
auch nicht genöthigt sein, den Begriff der Kunst von ihm zu abstrahiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1057" next="#ID_1058"> Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch d. h.<lb/>
in jedem Momente charakteristisch sei. So allgemein ist der Satz richtig, es<lb/>
kommt Alles darauf an, wie er künstlerisch ausgeführt und lebendig geworden ist.<lb/>
Nun ist bekannt genug, wie häufig in den meisten Opern diese Forderung außer<lb/>
Augen gesetzt ist, und mau begreift, wie Jemand, der gegen diesen Mißbrauch eifert,<lb/>
in seinem Eifer zu weit geht und auch das Erlaubte, selbst das Treffliche hinausweist.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0340] die Compositionen Zelter's allen übrigen vorzog, gewiß, weil sie zu seinen Ge¬ dichten wenig Musik als möglich hinzubrachten. Es nützt nichts, an den Künst- ler der Ankunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stelle», welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt. Denn man verwechsle doch um Gotteswillen die schaffende Kraft des Genies, welche allein wahrhafte Kunstwerke hervorzubringen im Stande ist, nicht mit Bildung, die aller¬ dings einer an Universalität gränzenden Vielseitigkeit fähig ist. In einer Zeit, wie die unsrige, deren geistige Atmosphäre mit Bildungselementen allerArt ge¬ sättigt ist, kann auch ein mäßiges Talent, wenn es mit einiger Beweglichkeit und Geschicklichkeit verbunden ist, sich leicht so viel ästhetische Bildung erwerben, daß es einem Stoffe poetische Motive ansieht und in der gebildeten Sprache, „die für ihn dichtet und denkt" ihn in leidlichen Versen behandelt. Auch die Musik ist durch die Leistungen der großen Meister, welche sie mit staunenswerther Energie und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren. Mit einigen der bildenden Künste ist es ziemlich ebenso weit gekommen, und mau betrachte nur die gebildeten Einwohner der größeren Städte, worin setzen sie ihre Bildung anders als in die universelle Fähigkeit, Poesie, Musik und bildende Kunst zu genießen, zu verstehen, und wenigstens in einigen auch selbst zu produciren? Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und We¬ sen von der Kunst verschiede», die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht, und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt unverrückt. Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus, wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt. Daß er in diese universelle Bildung das wahre Wesen der Kunst setzt, ist die na¬ türliche Folge seiner Meinung, daß er ein großer Künstler sei; da es zur Zeit noch durch nichts geboten ist, dieses Postulat zuzugeben, so wird man vorläufig auch nicht genöthigt sein, den Begriff der Kunst von ihm zu abstrahiren. Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch d. h. in jedem Momente charakteristisch sei. So allgemein ist der Satz richtig, es kommt Alles darauf an, wie er künstlerisch ausgeführt und lebendig geworden ist. Nun ist bekannt genug, wie häufig in den meisten Opern diese Forderung außer Augen gesetzt ist, und mau begreift, wie Jemand, der gegen diesen Mißbrauch eifert, in seinem Eifer zu weit geht und auch das Erlaubte, selbst das Treffliche hinausweist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/340
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/340>, abgerufen am 29.12.2024.