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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Ein überreich begabter Dichter, stolz im Gefühle seiner Kraft bis zur Ueberhe-
bung und eben seiner poetischen Begabung wegen sinnlich stark erregbar ergiebt
sich dem sinnlichen Genuß und wird von der dämonisch fesselnden Gewalt dessel¬
ben dergestalt bestrickt, daß er vergebens dieselbe zu bekämpfen sucht. Zwar
rafft er sich auf im Gefühl sittlicher Kraft und religiösen Glaubens, die beseligende
Zuversicht einer reinen Liebe giebt ihm Muth, tiefe Neue ergreift ihn --umsonst;
in jedem entscheidenden Moment erfaßt ihn der unheimliche Dämon, er stirbt
endlich ohne die Gewißheit der Entführung. Gewiß liegen hierin die Elemente
einer poetischen, wahrhaft tragischen Darstellung, allein Wagner hat in seinem
Tannhäuser uur das Moment der Sinnlichkeit entschieden charakterisirt, die dem¬
selben gegenüberstehenden der sittlichen Natur siud ungewiß und schwankend be¬
handelt, daher ist Tannhäuser zu keiner lebendigen Individualität geworden, der
Kampf der widerstrebenden Elemente, ans dem das tragische Interesse beruht,
kann sich nicht entwickeln und dem gemäß eine Lösung und Sühnung anch nicht
eintreten.

Wir finden Tannhäuser im Reich der Venus, welche diesen dämonisch fesseln¬
den Reiz alles rein Sinnlichen -- natürlich nicht im gemeinen Sinn aufgefaßt --
repräsentirt. Aber schon hat ihn Ueberdruß am Einerlei gefaßt, das in
der menschlichen Natur begründete Bedürfniß nach Abwechselung, dem dann
neben der Freude auch das Leiden zum Genuß wird, welchem als etwas Ver¬
wandtes dann die Sehnsucht nach Freiheit, die hier keineswegs als eine sittliche
erscheint, zugeordnet wird -- diese Motive treiben ihn von der Venus wieder
in die Menschenwelt. Daß er schließlich der Frau Venus zuruft: "Mein Heil
ruht in Maria!" ist durch die bis dahin gegebene Charakteristik Tannhäuser's
eben so wenig psychologisch motivirt, als es später gerechtfertigt wird, und daß
ihn dieser Ausruf von ihr befreit, ist ein theatralischer Effect, aber kein drama¬
tischer. Daß nicht ein religiöser Glaube, der tief in ihm geschlummert und nun
neu erwacht sei, den innern Wendepunkt bilde, zeigt sich im Folgenden, wo freilich
anfangs der Gesang der nach Rom wallfahrtenden Pilger die religiöse Stimmung in
ihm wach erhält; allein sobald die ritterlichen Sänger erscheinen und ihn zum Bleiben
auffordern, tritt ein ganz anderes Motiv entscheidend ein, das aber vom Dichter
eben so willkürlich eingeführt und eben so unsicher behandelt ist, als das erste.
Alle seine Bußgedankcn sind verschwunden, als ihm Wolfram von Eschenbach
mittheilt, daß Elisabeth ihm in jungfräulicher Liebe zugethan sei, er bleibt, naht
sich ihr, empfängt mit Entzücken das Geständnis! ihrer Neigung und fühlt sich
in dieser reinen Liebe beseligt. Tannhäuser's Liebe zu Elisabeth fällt hier ganz
umnotivirt hinein; nach der Weise, wie schon ihr Name ans ihn wirkt, muß
man doch annehmen, daß sie ihn nicht jetzt erst überkommt, und der Dichter
hat uicht uur ein psychologisches Moment außer Acht gelassen, das, richtig benutzt,
den Abfall Tannhäuser's zu Frau Venus motivirt hätte, sondern es ist geradezu


Ein überreich begabter Dichter, stolz im Gefühle seiner Kraft bis zur Ueberhe-
bung und eben seiner poetischen Begabung wegen sinnlich stark erregbar ergiebt
sich dem sinnlichen Genuß und wird von der dämonisch fesselnden Gewalt dessel¬
ben dergestalt bestrickt, daß er vergebens dieselbe zu bekämpfen sucht. Zwar
rafft er sich auf im Gefühl sittlicher Kraft und religiösen Glaubens, die beseligende
Zuversicht einer reinen Liebe giebt ihm Muth, tiefe Neue ergreift ihn —umsonst;
in jedem entscheidenden Moment erfaßt ihn der unheimliche Dämon, er stirbt
endlich ohne die Gewißheit der Entführung. Gewiß liegen hierin die Elemente
einer poetischen, wahrhaft tragischen Darstellung, allein Wagner hat in seinem
Tannhäuser uur das Moment der Sinnlichkeit entschieden charakterisirt, die dem¬
selben gegenüberstehenden der sittlichen Natur siud ungewiß und schwankend be¬
handelt, daher ist Tannhäuser zu keiner lebendigen Individualität geworden, der
Kampf der widerstrebenden Elemente, ans dem das tragische Interesse beruht,
kann sich nicht entwickeln und dem gemäß eine Lösung und Sühnung anch nicht
eintreten.

Wir finden Tannhäuser im Reich der Venus, welche diesen dämonisch fesseln¬
den Reiz alles rein Sinnlichen — natürlich nicht im gemeinen Sinn aufgefaßt —
repräsentirt. Aber schon hat ihn Ueberdruß am Einerlei gefaßt, das in
der menschlichen Natur begründete Bedürfniß nach Abwechselung, dem dann
neben der Freude auch das Leiden zum Genuß wird, welchem als etwas Ver¬
wandtes dann die Sehnsucht nach Freiheit, die hier keineswegs als eine sittliche
erscheint, zugeordnet wird — diese Motive treiben ihn von der Venus wieder
in die Menschenwelt. Daß er schließlich der Frau Venus zuruft: „Mein Heil
ruht in Maria!" ist durch die bis dahin gegebene Charakteristik Tannhäuser's
eben so wenig psychologisch motivirt, als es später gerechtfertigt wird, und daß
ihn dieser Ausruf von ihr befreit, ist ein theatralischer Effect, aber kein drama¬
tischer. Daß nicht ein religiöser Glaube, der tief in ihm geschlummert und nun
neu erwacht sei, den innern Wendepunkt bilde, zeigt sich im Folgenden, wo freilich
anfangs der Gesang der nach Rom wallfahrtenden Pilger die religiöse Stimmung in
ihm wach erhält; allein sobald die ritterlichen Sänger erscheinen und ihn zum Bleiben
auffordern, tritt ein ganz anderes Motiv entscheidend ein, das aber vom Dichter
eben so willkürlich eingeführt und eben so unsicher behandelt ist, als das erste.
Alle seine Bußgedankcn sind verschwunden, als ihm Wolfram von Eschenbach
mittheilt, daß Elisabeth ihm in jungfräulicher Liebe zugethan sei, er bleibt, naht
sich ihr, empfängt mit Entzücken das Geständnis! ihrer Neigung und fühlt sich
in dieser reinen Liebe beseligt. Tannhäuser's Liebe zu Elisabeth fällt hier ganz
umnotivirt hinein; nach der Weise, wie schon ihr Name ans ihn wirkt, muß
man doch annehmen, daß sie ihn nicht jetzt erst überkommt, und der Dichter
hat uicht uur ein psychologisches Moment außer Acht gelassen, das, richtig benutzt,
den Abfall Tannhäuser's zu Frau Venus motivirt hätte, sondern es ist geradezu


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[0336] Ein überreich begabter Dichter, stolz im Gefühle seiner Kraft bis zur Ueberhe- bung und eben seiner poetischen Begabung wegen sinnlich stark erregbar ergiebt sich dem sinnlichen Genuß und wird von der dämonisch fesselnden Gewalt dessel¬ ben dergestalt bestrickt, daß er vergebens dieselbe zu bekämpfen sucht. Zwar rafft er sich auf im Gefühl sittlicher Kraft und religiösen Glaubens, die beseligende Zuversicht einer reinen Liebe giebt ihm Muth, tiefe Neue ergreift ihn —umsonst; in jedem entscheidenden Moment erfaßt ihn der unheimliche Dämon, er stirbt endlich ohne die Gewißheit der Entführung. Gewiß liegen hierin die Elemente einer poetischen, wahrhaft tragischen Darstellung, allein Wagner hat in seinem Tannhäuser uur das Moment der Sinnlichkeit entschieden charakterisirt, die dem¬ selben gegenüberstehenden der sittlichen Natur siud ungewiß und schwankend be¬ handelt, daher ist Tannhäuser zu keiner lebendigen Individualität geworden, der Kampf der widerstrebenden Elemente, ans dem das tragische Interesse beruht, kann sich nicht entwickeln und dem gemäß eine Lösung und Sühnung anch nicht eintreten. Wir finden Tannhäuser im Reich der Venus, welche diesen dämonisch fesseln¬ den Reiz alles rein Sinnlichen — natürlich nicht im gemeinen Sinn aufgefaßt — repräsentirt. Aber schon hat ihn Ueberdruß am Einerlei gefaßt, das in der menschlichen Natur begründete Bedürfniß nach Abwechselung, dem dann neben der Freude auch das Leiden zum Genuß wird, welchem als etwas Ver¬ wandtes dann die Sehnsucht nach Freiheit, die hier keineswegs als eine sittliche erscheint, zugeordnet wird — diese Motive treiben ihn von der Venus wieder in die Menschenwelt. Daß er schließlich der Frau Venus zuruft: „Mein Heil ruht in Maria!" ist durch die bis dahin gegebene Charakteristik Tannhäuser's eben so wenig psychologisch motivirt, als es später gerechtfertigt wird, und daß ihn dieser Ausruf von ihr befreit, ist ein theatralischer Effect, aber kein drama¬ tischer. Daß nicht ein religiöser Glaube, der tief in ihm geschlummert und nun neu erwacht sei, den innern Wendepunkt bilde, zeigt sich im Folgenden, wo freilich anfangs der Gesang der nach Rom wallfahrtenden Pilger die religiöse Stimmung in ihm wach erhält; allein sobald die ritterlichen Sänger erscheinen und ihn zum Bleiben auffordern, tritt ein ganz anderes Motiv entscheidend ein, das aber vom Dichter eben so willkürlich eingeführt und eben so unsicher behandelt ist, als das erste. Alle seine Bußgedankcn sind verschwunden, als ihm Wolfram von Eschenbach mittheilt, daß Elisabeth ihm in jungfräulicher Liebe zugethan sei, er bleibt, naht sich ihr, empfängt mit Entzücken das Geständnis! ihrer Neigung und fühlt sich in dieser reinen Liebe beseligt. Tannhäuser's Liebe zu Elisabeth fällt hier ganz umnotivirt hinein; nach der Weise, wie schon ihr Name ans ihn wirkt, muß man doch annehmen, daß sie ihn nicht jetzt erst überkommt, und der Dichter hat uicht uur ein psychologisches Moment außer Acht gelassen, das, richtig benutzt, den Abfall Tannhäuser's zu Frau Venus motivirt hätte, sondern es ist geradezu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/336>, abgerufen am 28.12.2024.