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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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local! und die Brodverthcilnng dahin, daß die vagabondirenden, bittre Noth
leidenden Menschen die Schule besuchen, um zu arbeiten und dem Bibellesen und
Betstunden beizuwohnen. (Für die unglücklichen jungen Frauenzimmer, womit
die Gesellschaft in Berührung kommt, kann dieselbe selbst nichts weiter thun, als sie
anderen Gesellschaften zu empfehlen, deren Wirken später besprochen werden wird.)
Wenn die älteren Kinder die Schule verlassen, bemüht man sich, sie als Dienst¬
boten oder bei einem Handwerk anzubringen, und wenn man unter der ganz
wilden Masse, die das Schlaflvcal und die Brodvertheilung beansprucht,
Jemanden mit guten Anlagen entdeckt, so nimmt man sich seiner an, verschafft
ihm einen Dienst, einen Meister, oder befähigt ihn zum Auswandern. Hierbei
fehlt es durchaus nicht an Ereignissen, die, abgesehen davon, das! sie die Wirk¬
samkeit der Gesellschaft anspornen, nebenbei auch belohnend und interessant sind.
So befand sich unter Anderen dort ein Knabe, dessen Mutter bei seiner Geburt
gestorben, und dessen Vater vor einigen Jahren deportirt worden war. Der
Knabe wurde auf der Straße, in der nngebnndcnsteu Freiheit erzogen, und war
schon früh ein pcrfecter Dieb, Säufer .>c. Sein Quartier waren die dunklen
Bogengänge unter Sommvrsvl-Iiouso an der Themse, woselbst, seiner Erzählung
nach, Männer, Weiber und Kinder ein hansirendeö Volk bildeten, dessen Noth
und Laster schwierig mit Worten zu beschreiben find. Einst hatte er mit einem
Kameraden eine Reise nach Dublin verabredet, um den Onkel desselben zu plün¬
dern; allein der Verdienst war zu der Zeit nur mäßig, weshalb diese Reise von
Tag zu Tag verschoben werden mußte. Sein wachsendes Elend führte ihn zufällig
eines Tages nach Field-Lane, woselbst er mit großer Begierde das Schlaflveal
und die Brodvcrtheilnng benutzte und in der Schule verblieb, weil er augenblick¬
lich nichts Bestimmtes unternehmen konnte. Aber alsbald wurde sein Gemüth
durch die nie früher gekannte Nächstenliebe erweicht, und so wie man dies bemerkte,
verschaffte man ihm sogleich etwas Verdienst als Tagelöhner. Sein Principal
war dermaßen mit ihm zufrieden, daß er ihn der Gesellschaft dringend empfahl,
und diese rüstete ihn sofort zum Auswandern aus, damit er er sich wo möglich
unter Fremden die Stellung erringen könne, welche einem "Dieb" in seiner Heimath
unerreichbar bleibt. Am Bord des Schiffes traf er jenen Kameraden, dessen
Onkel von ihnen geplündert werden sollte und den das Schicksal ans ähnliche
Weise geleitet hatte.

Die Religion ist indessen doch die Hauptbasis, worauf die Existeuze der Ge¬
sellschaft beruht, oder wie dieselbe sich in ihren Jahresberichten ausdrückt: "Alles,
was bisher von uns geschehen ist, würde ein Nichts sein, wenn uicht die Seelen
gen Jesus Christus gewandt würden, ohne dieses Ziel wäre die ganze Arbeit als
fruchtlos zu betrachten und die angewandten Mittel als vergeudet." Die Wohl¬
that ist hier nicht Ziel, sondern nur Mittel. Aus dem Vorhergehenden ersieht
man, daß man in Uebereinstimmung hiermit sehr viel Gewicht auf den religiösen


Grenzboten. I. 3

local! und die Brodverthcilnng dahin, daß die vagabondirenden, bittre Noth
leidenden Menschen die Schule besuchen, um zu arbeiten und dem Bibellesen und
Betstunden beizuwohnen. (Für die unglücklichen jungen Frauenzimmer, womit
die Gesellschaft in Berührung kommt, kann dieselbe selbst nichts weiter thun, als sie
anderen Gesellschaften zu empfehlen, deren Wirken später besprochen werden wird.)
Wenn die älteren Kinder die Schule verlassen, bemüht man sich, sie als Dienst¬
boten oder bei einem Handwerk anzubringen, und wenn man unter der ganz
wilden Masse, die das Schlaflvcal und die Brodvertheilung beansprucht,
Jemanden mit guten Anlagen entdeckt, so nimmt man sich seiner an, verschafft
ihm einen Dienst, einen Meister, oder befähigt ihn zum Auswandern. Hierbei
fehlt es durchaus nicht an Ereignissen, die, abgesehen davon, das! sie die Wirk¬
samkeit der Gesellschaft anspornen, nebenbei auch belohnend und interessant sind.
So befand sich unter Anderen dort ein Knabe, dessen Mutter bei seiner Geburt
gestorben, und dessen Vater vor einigen Jahren deportirt worden war. Der
Knabe wurde auf der Straße, in der nngebnndcnsteu Freiheit erzogen, und war
schon früh ein pcrfecter Dieb, Säufer .>c. Sein Quartier waren die dunklen
Bogengänge unter Sommvrsvl-Iiouso an der Themse, woselbst, seiner Erzählung
nach, Männer, Weiber und Kinder ein hansirendeö Volk bildeten, dessen Noth
und Laster schwierig mit Worten zu beschreiben find. Einst hatte er mit einem
Kameraden eine Reise nach Dublin verabredet, um den Onkel desselben zu plün¬
dern; allein der Verdienst war zu der Zeit nur mäßig, weshalb diese Reise von
Tag zu Tag verschoben werden mußte. Sein wachsendes Elend führte ihn zufällig
eines Tages nach Field-Lane, woselbst er mit großer Begierde das Schlaflveal
und die Brodvcrtheilnng benutzte und in der Schule verblieb, weil er augenblick¬
lich nichts Bestimmtes unternehmen konnte. Aber alsbald wurde sein Gemüth
durch die nie früher gekannte Nächstenliebe erweicht, und so wie man dies bemerkte,
verschaffte man ihm sogleich etwas Verdienst als Tagelöhner. Sein Principal
war dermaßen mit ihm zufrieden, daß er ihn der Gesellschaft dringend empfahl,
und diese rüstete ihn sofort zum Auswandern aus, damit er er sich wo möglich
unter Fremden die Stellung erringen könne, welche einem „Dieb" in seiner Heimath
unerreichbar bleibt. Am Bord des Schiffes traf er jenen Kameraden, dessen
Onkel von ihnen geplündert werden sollte und den das Schicksal ans ähnliche
Weise geleitet hatte.

Die Religion ist indessen doch die Hauptbasis, worauf die Existeuze der Ge¬
sellschaft beruht, oder wie dieselbe sich in ihren Jahresberichten ausdrückt: „Alles,
was bisher von uns geschehen ist, würde ein Nichts sein, wenn uicht die Seelen
gen Jesus Christus gewandt würden, ohne dieses Ziel wäre die ganze Arbeit als
fruchtlos zu betrachten und die angewandten Mittel als vergeudet." Die Wohl¬
that ist hier nicht Ziel, sondern nur Mittel. Aus dem Vorhergehenden ersieht
man, daß man in Uebereinstimmung hiermit sehr viel Gewicht auf den religiösen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/25>, abgerufen am 24.07.2024.