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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Das sind die charakteristischen Bestimmungen der neuen Vorlagen für ein
Gebiet, welches den reichhaltigsten und bildsamsten Stoff für eine großartige
Schöpfung darbot. Statt zu organisiren, hat man nicht nnr die durch eine voll¬
kommene Auflösung hervorgerufene Kraftlosigkeit fortdauern lassen, sondern sogar
in die einzelnen Gemeinden selbst neue Keime der Zwietracht getragen, indem man
die natürliche Verschiedenheit in der materiellen Lage ihrer Bewohner durch ein
Kastensystem zu fixiren suchte und neben einer Minorität von Bevorrechteten eine
von deren guten Willen abhängige Klasse von Minderbercchtigten und Nicht¬
berechtigten stellte. Alles Alte und Unhaltbare hat man mit krankhafter Sorge
zu restauriren gesucht; aber auf die gute alte Städteordnung, auf das Princip
der vollen Selbstverwaltung, ans das Bailot, die sicherste Bürgschaft der Wahl¬
freiheit und den festesten Damm gegen Demoralisation, ist man nicht zurückge¬
gangen. Alles Neue hat man mit tiefem Mißtrauen behandelt; nnr die abhängige,
würdelose Stellung der Beamten, die uns der Scheiuconstitutioualismus geschaffen,
die büreaukratische Vielregiererei, die tausend Mittel zur gouvernementalen Ein¬
wirkung ans die Wahlen hat man als gute Prisen beibehalten.

Die constitutionelle Partei ist dieser Frage gegenüber in einer unangenehmen
Situation. Sie kaun sich für die Gen.-Ordn. v. 18!jg nicht enthusiasmiren;
denn dieses Gesetz, das ein organisches werden sollte, ist unter deu Händen der
Rechten zu einem Reglement geworden, welches der Communalfreiheit nnr einen
begrenzten Spielraum gewährt. Dennoch war bei diesem Gesetz eine gesunde
Entwickelung des Gemcindelebens möglich. Deshalb hat es die Partei gegen
die Reaction vertheidigt, wiederholt seine schleimigere Durchführung gefordert.
Und sie that Recht daran. Jetzt, wo die neuen Vorlagen uns nicht nnr zu
einem kolossalen Rückschritt, sondern zu einem Werk der Zerstörung auffordern,
ist es doppelte Pflicht, an der Gen.-Ordu. festzuhalten.

Die letztere wird indeß dnrch die Majorität beseitigt werden. Dann bietet
sich uns die Wahl zwischen den alten Zustanden und den neuen Vorlagen dar.
Die trügerische Hoffnung, daß diese hier und dort dnrch ein Amendement ver¬
bessert werden könnten, wird Manchem die Wahl erschweren; nach reiflicher Er¬
wägung zweifeln wir uicht, daß es besser ist, schlechtweg zum Alten zurück-
zukehren.

Die Landgemcindcordnnngen sind von einem so falschen Standpunkt ent¬
worfen, daß sie -- vielleicht mit Ansnahme der schlesischen -- unverbesserlich
sind. Man kann wol einzelne Formen corrigiren; aber man überzeugt sich bald,
daß damit Nichts gewonnen wird, wenn man den Zweck solcher Gesetze in's
Auge faßt.

Ein Gemciudeleben zu entzünden, den Sinn sür ein gemeinsames Streben
nach würdigen Zielen zu beleben, den Geist der Selbstständigkeit, die Freude an
vernünftigem Fortschritt zu stärken, -- dazu siud jene Vorlagen nicht geeignet.


Das sind die charakteristischen Bestimmungen der neuen Vorlagen für ein
Gebiet, welches den reichhaltigsten und bildsamsten Stoff für eine großartige
Schöpfung darbot. Statt zu organisiren, hat man nicht nnr die durch eine voll¬
kommene Auflösung hervorgerufene Kraftlosigkeit fortdauern lassen, sondern sogar
in die einzelnen Gemeinden selbst neue Keime der Zwietracht getragen, indem man
die natürliche Verschiedenheit in der materiellen Lage ihrer Bewohner durch ein
Kastensystem zu fixiren suchte und neben einer Minorität von Bevorrechteten eine
von deren guten Willen abhängige Klasse von Minderbercchtigten und Nicht¬
berechtigten stellte. Alles Alte und Unhaltbare hat man mit krankhafter Sorge
zu restauriren gesucht; aber auf die gute alte Städteordnung, auf das Princip
der vollen Selbstverwaltung, ans das Bailot, die sicherste Bürgschaft der Wahl¬
freiheit und den festesten Damm gegen Demoralisation, ist man nicht zurückge¬
gangen. Alles Neue hat man mit tiefem Mißtrauen behandelt; nnr die abhängige,
würdelose Stellung der Beamten, die uns der Scheiuconstitutioualismus geschaffen,
die büreaukratische Vielregiererei, die tausend Mittel zur gouvernementalen Ein¬
wirkung ans die Wahlen hat man als gute Prisen beibehalten.

Die constitutionelle Partei ist dieser Frage gegenüber in einer unangenehmen
Situation. Sie kaun sich für die Gen.-Ordn. v. 18!jg nicht enthusiasmiren;
denn dieses Gesetz, das ein organisches werden sollte, ist unter deu Händen der
Rechten zu einem Reglement geworden, welches der Communalfreiheit nnr einen
begrenzten Spielraum gewährt. Dennoch war bei diesem Gesetz eine gesunde
Entwickelung des Gemcindelebens möglich. Deshalb hat es die Partei gegen
die Reaction vertheidigt, wiederholt seine schleimigere Durchführung gefordert.
Und sie that Recht daran. Jetzt, wo die neuen Vorlagen uns nicht nnr zu
einem kolossalen Rückschritt, sondern zu einem Werk der Zerstörung auffordern,
ist es doppelte Pflicht, an der Gen.-Ordu. festzuhalten.

Die letztere wird indeß dnrch die Majorität beseitigt werden. Dann bietet
sich uns die Wahl zwischen den alten Zustanden und den neuen Vorlagen dar.
Die trügerische Hoffnung, daß diese hier und dort dnrch ein Amendement ver¬
bessert werden könnten, wird Manchem die Wahl erschweren; nach reiflicher Er¬
wägung zweifeln wir uicht, daß es besser ist, schlechtweg zum Alten zurück-
zukehren.

Die Landgemcindcordnnngen sind von einem so falschen Standpunkt ent¬
worfen, daß sie — vielleicht mit Ansnahme der schlesischen — unverbesserlich
sind. Man kann wol einzelne Formen corrigiren; aber man überzeugt sich bald,
daß damit Nichts gewonnen wird, wenn man den Zweck solcher Gesetze in's
Auge faßt.

Ein Gemciudeleben zu entzünden, den Sinn sür ein gemeinsames Streben
nach würdigen Zielen zu beleben, den Geist der Selbstständigkeit, die Freude an
vernünftigem Fortschritt zu stärken, — dazu siud jene Vorlagen nicht geeignet.


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[0231] Das sind die charakteristischen Bestimmungen der neuen Vorlagen für ein Gebiet, welches den reichhaltigsten und bildsamsten Stoff für eine großartige Schöpfung darbot. Statt zu organisiren, hat man nicht nnr die durch eine voll¬ kommene Auflösung hervorgerufene Kraftlosigkeit fortdauern lassen, sondern sogar in die einzelnen Gemeinden selbst neue Keime der Zwietracht getragen, indem man die natürliche Verschiedenheit in der materiellen Lage ihrer Bewohner durch ein Kastensystem zu fixiren suchte und neben einer Minorität von Bevorrechteten eine von deren guten Willen abhängige Klasse von Minderbercchtigten und Nicht¬ berechtigten stellte. Alles Alte und Unhaltbare hat man mit krankhafter Sorge zu restauriren gesucht; aber auf die gute alte Städteordnung, auf das Princip der vollen Selbstverwaltung, ans das Bailot, die sicherste Bürgschaft der Wahl¬ freiheit und den festesten Damm gegen Demoralisation, ist man nicht zurückge¬ gangen. Alles Neue hat man mit tiefem Mißtrauen behandelt; nnr die abhängige, würdelose Stellung der Beamten, die uns der Scheiuconstitutioualismus geschaffen, die büreaukratische Vielregiererei, die tausend Mittel zur gouvernementalen Ein¬ wirkung ans die Wahlen hat man als gute Prisen beibehalten. Die constitutionelle Partei ist dieser Frage gegenüber in einer unangenehmen Situation. Sie kaun sich für die Gen.-Ordn. v. 18!jg nicht enthusiasmiren; denn dieses Gesetz, das ein organisches werden sollte, ist unter deu Händen der Rechten zu einem Reglement geworden, welches der Communalfreiheit nnr einen begrenzten Spielraum gewährt. Dennoch war bei diesem Gesetz eine gesunde Entwickelung des Gemcindelebens möglich. Deshalb hat es die Partei gegen die Reaction vertheidigt, wiederholt seine schleimigere Durchführung gefordert. Und sie that Recht daran. Jetzt, wo die neuen Vorlagen uns nicht nnr zu einem kolossalen Rückschritt, sondern zu einem Werk der Zerstörung auffordern, ist es doppelte Pflicht, an der Gen.-Ordu. festzuhalten. Die letztere wird indeß dnrch die Majorität beseitigt werden. Dann bietet sich uns die Wahl zwischen den alten Zustanden und den neuen Vorlagen dar. Die trügerische Hoffnung, daß diese hier und dort dnrch ein Amendement ver¬ bessert werden könnten, wird Manchem die Wahl erschweren; nach reiflicher Er¬ wägung zweifeln wir uicht, daß es besser ist, schlechtweg zum Alten zurück- zukehren. Die Landgemcindcordnnngen sind von einem so falschen Standpunkt ent¬ worfen, daß sie — vielleicht mit Ansnahme der schlesischen — unverbesserlich sind. Man kann wol einzelne Formen corrigiren; aber man überzeugt sich bald, daß damit Nichts gewonnen wird, wenn man den Zweck solcher Gesetze in's Auge faßt. Ein Gemciudeleben zu entzünden, den Sinn sür ein gemeinsames Streben nach würdigen Zielen zu beleben, den Geist der Selbstständigkeit, die Freude an vernünftigem Fortschritt zu stärken, — dazu siud jene Vorlagen nicht geeignet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/231>, abgerufen am 28.07.2024.