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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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unser Bruder gesündigt hat, sondern nur, ob er hilfsbedürftig ist" und ohne
dem Empfänger irgend eine Verpflichtung aufzuerlegen, die ausgenommen, Abends
und Morgens einen religiösen Vortvcig anhören und ein Paar Psalme singen
zu müssen.

Man unterläßt auch nicht, sie darauf aufmerksam zu macheu, wenn sie des
Morgens die Schlafstelle verlassen, um einen Erwerb zu suchen, daß, sollte ihnen
dies mißlingen, sie gerne am Abend wiederkommen könnten, um mit den Kindern
in der Schule Unterricht und Wärme zu genießen. Hieraus geht hervor, welch
einen gemischten Anblick die Schule namentlich im Winter darbieten muß.

Ein Begriff hiervon ward mir, als ich am nächsten Sonntag die Schule
besuchte. Das Zimmer war beinahe überfüllt; die kleinen Kinder waren bei
Seite gedrängt, und eine Masse vou über 400 Menschen saß in dichten Reihen
mitten im Zimmer. Sie waren fast alle zwischen -ki und 20 Jahren -- mir
wenig Aeltere -- und fast ohne Ausnahme zerlumpt und schmuzig. Viele hatten
kein Hemd an, man sah ihre gelbe Haut durch die Fetzen der Jacken; die Be¬
kleidung Einiger wäre" nur mit Bindfaden verbundene Lumpen. Und was für
Physiognomien waren darunter! Alle Armuth, Leiden, Unwissenheit, List
und Verbrechen von ganz London schienen sich in einer neuen menschlichen
Gesellschaft concentrirt zu haben, welche eine nicht früher gekannte Physiognomie
angenommen hatte. Das also sind die Früchte von Englands Politik in den
Jahren -1789 bis 1846, diese Krankheit brach in der überkräftigen Gemeinde ans
und verbreitete sich unbeachtet, während der Staat triumphirte, während die
Armee und die Flotte den Feind besiegten nud während die Maschinen alle Con-
currenten erdrückten! So sah das englische Proletariat ans! Hin und wieder
verriethen einige Züge eine bessere Abkunft, allein vom Strom ergriffen,
waren sie dem Elend verfallen; übrigens muß ich auch erwähnen, daß mau hier
oder dort doch ein reines Hemd und eine Physiognomie bemerkte, deren sich kein
ehrlicher Mann hätte schämen brauchen.

Diese ganze Masse war in Klassen vou 10 bis 12 Personen eingetheilt,
und in jeder Klasse saß ein Herr oder eine Dame und las aus der Bibel vor,
die nöthigen Erklärungen hinzufügend. Mehrere der Damen waren ziemlich
jung und eine derselben schien nicht über 20 Jahr alt zu sein.

Ob -- wie ich wol hin und wieder gehört -- etwas Heuchelei oder
Eitelkeit an dieser Wirksamkeit Theil nimmt, wage ich nicht zu entscheiden; aber
so viel ist gewiß, daß el" tiefer, Ehrfurcht gebietender Ernst über die ganze Scene
verbreitet war, und ein Jeder mußte erkennen, daß das bizarre Aussehen der
Zuhörer keineswegs die Bewunderung, die man den Lehrern zollen muß, schmä-
wrn kann. Schon unter dieser Meuge zu sitzen ist wahrlich eine Auf¬
opferung; denn es befinden sich daselbst bei weitem mehr lebendige Wesen als
Menschen.


unser Bruder gesündigt hat, sondern nur, ob er hilfsbedürftig ist" und ohne
dem Empfänger irgend eine Verpflichtung aufzuerlegen, die ausgenommen, Abends
und Morgens einen religiösen Vortvcig anhören und ein Paar Psalme singen
zu müssen.

Man unterläßt auch nicht, sie darauf aufmerksam zu macheu, wenn sie des
Morgens die Schlafstelle verlassen, um einen Erwerb zu suchen, daß, sollte ihnen
dies mißlingen, sie gerne am Abend wiederkommen könnten, um mit den Kindern
in der Schule Unterricht und Wärme zu genießen. Hieraus geht hervor, welch
einen gemischten Anblick die Schule namentlich im Winter darbieten muß.

Ein Begriff hiervon ward mir, als ich am nächsten Sonntag die Schule
besuchte. Das Zimmer war beinahe überfüllt; die kleinen Kinder waren bei
Seite gedrängt, und eine Masse vou über 400 Menschen saß in dichten Reihen
mitten im Zimmer. Sie waren fast alle zwischen -ki und 20 Jahren — mir
wenig Aeltere — und fast ohne Ausnahme zerlumpt und schmuzig. Viele hatten
kein Hemd an, man sah ihre gelbe Haut durch die Fetzen der Jacken; die Be¬
kleidung Einiger wäre» nur mit Bindfaden verbundene Lumpen. Und was für
Physiognomien waren darunter! Alle Armuth, Leiden, Unwissenheit, List
und Verbrechen von ganz London schienen sich in einer neuen menschlichen
Gesellschaft concentrirt zu haben, welche eine nicht früher gekannte Physiognomie
angenommen hatte. Das also sind die Früchte von Englands Politik in den
Jahren -1789 bis 1846, diese Krankheit brach in der überkräftigen Gemeinde ans
und verbreitete sich unbeachtet, während der Staat triumphirte, während die
Armee und die Flotte den Feind besiegten nud während die Maschinen alle Con-
currenten erdrückten! So sah das englische Proletariat ans! Hin und wieder
verriethen einige Züge eine bessere Abkunft, allein vom Strom ergriffen,
waren sie dem Elend verfallen; übrigens muß ich auch erwähnen, daß mau hier
oder dort doch ein reines Hemd und eine Physiognomie bemerkte, deren sich kein
ehrlicher Mann hätte schämen brauchen.

Diese ganze Masse war in Klassen vou 10 bis 12 Personen eingetheilt,
und in jeder Klasse saß ein Herr oder eine Dame und las aus der Bibel vor,
die nöthigen Erklärungen hinzufügend. Mehrere der Damen waren ziemlich
jung und eine derselben schien nicht über 20 Jahr alt zu sein.

Ob — wie ich wol hin und wieder gehört — etwas Heuchelei oder
Eitelkeit an dieser Wirksamkeit Theil nimmt, wage ich nicht zu entscheiden; aber
so viel ist gewiß, daß el» tiefer, Ehrfurcht gebietender Ernst über die ganze Scene
verbreitet war, und ein Jeder mußte erkennen, daß das bizarre Aussehen der
Zuhörer keineswegs die Bewunderung, die man den Lehrern zollen muß, schmä-
wrn kann. Schon unter dieser Meuge zu sitzen ist wahrlich eine Auf¬
opferung; denn es befinden sich daselbst bei weitem mehr lebendige Wesen als
Menschen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/23>, abgerufen am 28.12.2024.