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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Gemcindcvcrbaiide befindlichen Grundstücke zunächst als gleichberechtigter Fall hin¬
gestellt; factisch wurde sie, für die Rittergüter, die Regel, -- und die Vereinigung
wurde die Ausnahme. Bald wurde es vollständig klar, daß die Rechte in beiden
Kammern, als sie die ausnahmsweise isolirte Fortexistenz einzelner Besitzungen
befürwortete, den Todtstem, in das neue Gesetz zu pflanzen gewußt hatte.

Wenn nämlich die Vereinigung von Ortschaften zu einer Gemeinde nicht
die Regel bildet, so wird sich ein Gemeindeladen auf dem platten Lande der
östlichen Provinzen nie entwickeln. Einige statistische Angaben können das über¬
zeugend darthun. Wer den geringen Bildungsgrad der großen Masse der länd¬
lichen Bevölkerung und ihre" geringen Wohlstand, namentlich in den östlichen
Provinzen, erwägt, wird sich leicht davon überzeuge", daß Ortschaften mit einer
Bevölkerung von weniger als -1000 Seelen nicht die zur ersprießlichen Entwickelung
eines CommnnallebenS erforderlichen geistigen nud materiellen Kräfte in sich
schließen. Ans einer officiellen Zusammenstellung, die auf den Zählungen des
Jahres beruht, ergiebt sich, daß die Provinzen Ost- und Westpreußen,
Posen, Brandenburg und Pommern 20,9i0 ländliche Gemeinden enthalten; von
diesen zählen nur 10i mehr als 1000 Einwohner, d. h. also, fast alle sind,
wenn sie isolirt bleiben, zu einem kräftigen Gemeindeleben unfähig. Ja selbst
wenn mau das Postulat von 1000 Seelen für eine Gemeinde anf die Hälfte, auf
500 Seelen reducirt, so sind unter jenen Z0,9-i>0 ländlichen Ortschaften noch immer
über 19600, also mehr als 93 Procent, welche anch diese Bevölkerung nicht er¬
reichen. In Ostpreußen zählen 21 !i5 ländliche Ortschaften unter 6-106, in West¬
preußen 1719 unter 3774 (fast die Hälfte), weniger als hundert Seelen. Hier
giebt es sehr ausgedehnte zusammenhängende Landstriche, in denen die durch¬
schnittliche Bevölkerung einer ländlichen Ortschaft noch nicht hundert Seelen er¬
reicht. Von dieser Bevölkerung fallen etwa drei Viertheile auf das weibliche Ge¬
schlecht und die Jugend unter 2ü Jahren; anch von dein letzrcn Viertel geht
bei der großen Menge der Tagelöhner ein nicht unbeträchtlicher Theil entweder
in Folge des Mangels an Grundbesitz, oder in Folge des geringen SteucrbetragS
für das Gemeindeladen verloren, und so schrumpft hier das Material, welches
die Gemeindeordnung zu gemeinnütziger Thätigkeit organisiren sollte, zu einem
höchst kläglichen Minimum zusammen.

ES erhellt schon ans diesen Zahlen, die freilich durch die Erwägung, wie
vereinzelt auf dem platten Lande Bildung und Wohlstand sind, eine noch viel
prägnantere Bedeutung bekommen, daß die Vereinigung der Ortschaften die
Regel bilden mußte, daß ihre isolirte Fortexistenz nur als sehr seltene Ausnahme
gestattet werden durfte. Das entgegengesetzte Verfahren mußte factisch zur Folge
haben, daß die Entwickelung eines GemeindelebcnS auf dem platten Lande zur
Unmöglichkeit wurde, d. h. daß der eigentliche Zweck des Gesetzes von 1850
verfehlt wurde.


Gemcindcvcrbaiide befindlichen Grundstücke zunächst als gleichberechtigter Fall hin¬
gestellt; factisch wurde sie, für die Rittergüter, die Regel, — und die Vereinigung
wurde die Ausnahme. Bald wurde es vollständig klar, daß die Rechte in beiden
Kammern, als sie die ausnahmsweise isolirte Fortexistenz einzelner Besitzungen
befürwortete, den Todtstem, in das neue Gesetz zu pflanzen gewußt hatte.

Wenn nämlich die Vereinigung von Ortschaften zu einer Gemeinde nicht
die Regel bildet, so wird sich ein Gemeindeladen auf dem platten Lande der
östlichen Provinzen nie entwickeln. Einige statistische Angaben können das über¬
zeugend darthun. Wer den geringen Bildungsgrad der großen Masse der länd¬
lichen Bevölkerung und ihre» geringen Wohlstand, namentlich in den östlichen
Provinzen, erwägt, wird sich leicht davon überzeuge», daß Ortschaften mit einer
Bevölkerung von weniger als -1000 Seelen nicht die zur ersprießlichen Entwickelung
eines CommnnallebenS erforderlichen geistigen nud materiellen Kräfte in sich
schließen. Ans einer officiellen Zusammenstellung, die auf den Zählungen des
Jahres beruht, ergiebt sich, daß die Provinzen Ost- und Westpreußen,
Posen, Brandenburg und Pommern 20,9i0 ländliche Gemeinden enthalten; von
diesen zählen nur 10i mehr als 1000 Einwohner, d. h. also, fast alle sind,
wenn sie isolirt bleiben, zu einem kräftigen Gemeindeleben unfähig. Ja selbst
wenn mau das Postulat von 1000 Seelen für eine Gemeinde anf die Hälfte, auf
500 Seelen reducirt, so sind unter jenen Z0,9-i>0 ländlichen Ortschaften noch immer
über 19600, also mehr als 93 Procent, welche anch diese Bevölkerung nicht er¬
reichen. In Ostpreußen zählen 21 !i5 ländliche Ortschaften unter 6-106, in West¬
preußen 1719 unter 3774 (fast die Hälfte), weniger als hundert Seelen. Hier
giebt es sehr ausgedehnte zusammenhängende Landstriche, in denen die durch¬
schnittliche Bevölkerung einer ländlichen Ortschaft noch nicht hundert Seelen er¬
reicht. Von dieser Bevölkerung fallen etwa drei Viertheile auf das weibliche Ge¬
schlecht und die Jugend unter 2ü Jahren; anch von dein letzrcn Viertel geht
bei der großen Menge der Tagelöhner ein nicht unbeträchtlicher Theil entweder
in Folge des Mangels an Grundbesitz, oder in Folge des geringen SteucrbetragS
für das Gemeindeladen verloren, und so schrumpft hier das Material, welches
die Gemeindeordnung zu gemeinnütziger Thätigkeit organisiren sollte, zu einem
höchst kläglichen Minimum zusammen.

ES erhellt schon ans diesen Zahlen, die freilich durch die Erwägung, wie
vereinzelt auf dem platten Lande Bildung und Wohlstand sind, eine noch viel
prägnantere Bedeutung bekommen, daß die Vereinigung der Ortschaften die
Regel bilden mußte, daß ihre isolirte Fortexistenz nur als sehr seltene Ausnahme
gestattet werden durfte. Das entgegengesetzte Verfahren mußte factisch zur Folge
haben, daß die Entwickelung eines GemeindelebcnS auf dem platten Lande zur
Unmöglichkeit wurde, d. h. daß der eigentliche Zweck des Gesetzes von 1850
verfehlt wurde.


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[0188] Gemcindcvcrbaiide befindlichen Grundstücke zunächst als gleichberechtigter Fall hin¬ gestellt; factisch wurde sie, für die Rittergüter, die Regel, — und die Vereinigung wurde die Ausnahme. Bald wurde es vollständig klar, daß die Rechte in beiden Kammern, als sie die ausnahmsweise isolirte Fortexistenz einzelner Besitzungen befürwortete, den Todtstem, in das neue Gesetz zu pflanzen gewußt hatte. Wenn nämlich die Vereinigung von Ortschaften zu einer Gemeinde nicht die Regel bildet, so wird sich ein Gemeindeladen auf dem platten Lande der östlichen Provinzen nie entwickeln. Einige statistische Angaben können das über¬ zeugend darthun. Wer den geringen Bildungsgrad der großen Masse der länd¬ lichen Bevölkerung und ihre» geringen Wohlstand, namentlich in den östlichen Provinzen, erwägt, wird sich leicht davon überzeuge», daß Ortschaften mit einer Bevölkerung von weniger als -1000 Seelen nicht die zur ersprießlichen Entwickelung eines CommnnallebenS erforderlichen geistigen nud materiellen Kräfte in sich schließen. Ans einer officiellen Zusammenstellung, die auf den Zählungen des Jahres beruht, ergiebt sich, daß die Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen, Brandenburg und Pommern 20,9i0 ländliche Gemeinden enthalten; von diesen zählen nur 10i mehr als 1000 Einwohner, d. h. also, fast alle sind, wenn sie isolirt bleiben, zu einem kräftigen Gemeindeleben unfähig. Ja selbst wenn mau das Postulat von 1000 Seelen für eine Gemeinde anf die Hälfte, auf 500 Seelen reducirt, so sind unter jenen Z0,9-i>0 ländlichen Ortschaften noch immer über 19600, also mehr als 93 Procent, welche anch diese Bevölkerung nicht er¬ reichen. In Ostpreußen zählen 21 !i5 ländliche Ortschaften unter 6-106, in West¬ preußen 1719 unter 3774 (fast die Hälfte), weniger als hundert Seelen. Hier giebt es sehr ausgedehnte zusammenhängende Landstriche, in denen die durch¬ schnittliche Bevölkerung einer ländlichen Ortschaft noch nicht hundert Seelen er¬ reicht. Von dieser Bevölkerung fallen etwa drei Viertheile auf das weibliche Ge¬ schlecht und die Jugend unter 2ü Jahren; anch von dein letzrcn Viertel geht bei der großen Menge der Tagelöhner ein nicht unbeträchtlicher Theil entweder in Folge des Mangels an Grundbesitz, oder in Folge des geringen SteucrbetragS für das Gemeindeladen verloren, und so schrumpft hier das Material, welches die Gemeindeordnung zu gemeinnütziger Thätigkeit organisiren sollte, zu einem höchst kläglichen Minimum zusammen. ES erhellt schon ans diesen Zahlen, die freilich durch die Erwägung, wie vereinzelt auf dem platten Lande Bildung und Wohlstand sind, eine noch viel prägnantere Bedeutung bekommen, daß die Vereinigung der Ortschaften die Regel bilden mußte, daß ihre isolirte Fortexistenz nur als sehr seltene Ausnahme gestattet werden durfte. Das entgegengesetzte Verfahren mußte factisch zur Folge haben, daß die Entwickelung eines GemeindelebcnS auf dem platten Lande zur Unmöglichkeit wurde, d. h. daß der eigentliche Zweck des Gesetzes von 1850 verfehlt wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/188>, abgerufen am 24.07.2024.