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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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lassen sich in jeder Situation nachweisen. Dadurch verlieren sämmtliche Charaktere
einen guten Theil ihres individuellen Lebens, sie werden zu Schatten der Begeben¬
heiten. Das Publicum weiß vielleicht nicht, was ihnen fehlt; aber Darsteller und
Hörer vermissen doch den größten Theil des reizenden Behagens, das stets durch die
wahre und genaue Darstellung menschlicher Natur ans der Bühne hervorgebracht wird.
Dieser Mangel an Wahrheit und Genauigkeit in der Zeichnung entspringt zuletzt ans
einer Schwäche, entweder des Talentes, oder des ästhetischen Gemeingefühls, oder
beider, er ist bei allen unser" neueren dramatischen und epischen Dichtern sehr
zu beklagen; aber das Talent, welches am meisten von Allen Hoffnung gab, ihn
zu überwinden, ist doch Otto Ludwig, und wir möchten ungeduldig werden, daß
dies ihm bei einem spröden und undankbaren Stoff nicht hinreichend gelungen ist.

Von den Charakteren ist Juda gut, in einzelnen Scenen vortrefflich gezeichnet.
Diese sichere, fröhliche Heldenkraft, der starke Sinn, welcher handelt, ohne viele
Worte zu machen, und dabei das reine innige Verhältniß zu seiner Frau, das
alles thut sehr wohl. Dagegen ist das Gegenbild Judas, Eleazar, verunglückt. Diese
Figur hat kein inneres Leben, welches uns interessiren könnte, sie erscheint als
störende Beigabe selbst in der Stcrbescene des Vaters, als Begleiter des Antiochus,
sogar die Reue und Rückkehr zur Familie beim Martyrium der Brüder sind
kurz, scizzeuhaft und deßhalb uicht glaubwürdig gezeichnet. Am wenigsten klar sein
Verhältniß zur Mutter. Bei aller thörichten Zärtlichkeit Lea's für diesen Sohn
weiß und erfährt sie im zweiten Act zu viel von seinem Abfall und seiner Freund¬
schaft zu den Syrern, als daß die stolze Patriotin im dritten Act noch irgend eine
Hoffnung ans ihn setzen könnte. Die Annahme, daß Mutterliebe sich über Fehltritte
eines Lieblings zu täuschen vermöge und geneigt sein werde, immer wieder zu hoffen,
nützt dem Stück nichts, der Dichter hätte uns diesen Proceß der Selbsttäuschung
in der Seele der Mutter darstellen müssen. Für alle solche charakterisirende Züge war
aber kein Raum. Unter den Nebenfiguren sind noch die Heuchler und Schleicher
aus dem Hause der Simciteu gut gezeichnet, ebenso Rasal, das zarte liebevolle
Weib des Juda. Im Vordergrund vor Allen steht Lea. Das menschlich
Erschütternde, der Mittelpunkt der Handlung, das, was dem Stück seinen Erfolg
und relativem Werth giebt, ist die Darstellung des Leidens und der heroischen
Kraft der Mutter. Sicherlich Gefühle von dem höchsten tragischen Werth, voll¬
ständig geeignet, den Zuschauer zu erschüttern und fortzureißen; nur hat die Ge¬
legenheit, bei welcher sie zur Darstellung kommen, für die Tragödie doch wieder
ihr Bedenkliches. Vier Kinder der Frau sollen den Martertode im feurigen Ofen ster¬
ben. Diese furchtbare, erntete Thatsache sollen wir mit in Kauf nehmen, aber eine so
unerhörte gransame Begebenheit empört unser menschliches Gefühl in einem Grade,
welcher für die reine tragische Wirkung unvortheilhaft ist. Was haben die rüh¬
renden guten Kinder verschuldet? Wir werden erschüttert bis aufs Innerste, aber
sie jammern uns zu sehr und der Gedanke an ihren qualvollen Tod stört


Grenzten. I. ->W. 2

lassen sich in jeder Situation nachweisen. Dadurch verlieren sämmtliche Charaktere
einen guten Theil ihres individuellen Lebens, sie werden zu Schatten der Begeben¬
heiten. Das Publicum weiß vielleicht nicht, was ihnen fehlt; aber Darsteller und
Hörer vermissen doch den größten Theil des reizenden Behagens, das stets durch die
wahre und genaue Darstellung menschlicher Natur ans der Bühne hervorgebracht wird.
Dieser Mangel an Wahrheit und Genauigkeit in der Zeichnung entspringt zuletzt ans
einer Schwäche, entweder des Talentes, oder des ästhetischen Gemeingefühls, oder
beider, er ist bei allen unser» neueren dramatischen und epischen Dichtern sehr
zu beklagen; aber das Talent, welches am meisten von Allen Hoffnung gab, ihn
zu überwinden, ist doch Otto Ludwig, und wir möchten ungeduldig werden, daß
dies ihm bei einem spröden und undankbaren Stoff nicht hinreichend gelungen ist.

Von den Charakteren ist Juda gut, in einzelnen Scenen vortrefflich gezeichnet.
Diese sichere, fröhliche Heldenkraft, der starke Sinn, welcher handelt, ohne viele
Worte zu machen, und dabei das reine innige Verhältniß zu seiner Frau, das
alles thut sehr wohl. Dagegen ist das Gegenbild Judas, Eleazar, verunglückt. Diese
Figur hat kein inneres Leben, welches uns interessiren könnte, sie erscheint als
störende Beigabe selbst in der Stcrbescene des Vaters, als Begleiter des Antiochus,
sogar die Reue und Rückkehr zur Familie beim Martyrium der Brüder sind
kurz, scizzeuhaft und deßhalb uicht glaubwürdig gezeichnet. Am wenigsten klar sein
Verhältniß zur Mutter. Bei aller thörichten Zärtlichkeit Lea's für diesen Sohn
weiß und erfährt sie im zweiten Act zu viel von seinem Abfall und seiner Freund¬
schaft zu den Syrern, als daß die stolze Patriotin im dritten Act noch irgend eine
Hoffnung ans ihn setzen könnte. Die Annahme, daß Mutterliebe sich über Fehltritte
eines Lieblings zu täuschen vermöge und geneigt sein werde, immer wieder zu hoffen,
nützt dem Stück nichts, der Dichter hätte uns diesen Proceß der Selbsttäuschung
in der Seele der Mutter darstellen müssen. Für alle solche charakterisirende Züge war
aber kein Raum. Unter den Nebenfiguren sind noch die Heuchler und Schleicher
aus dem Hause der Simciteu gut gezeichnet, ebenso Rasal, das zarte liebevolle
Weib des Juda. Im Vordergrund vor Allen steht Lea. Das menschlich
Erschütternde, der Mittelpunkt der Handlung, das, was dem Stück seinen Erfolg
und relativem Werth giebt, ist die Darstellung des Leidens und der heroischen
Kraft der Mutter. Sicherlich Gefühle von dem höchsten tragischen Werth, voll¬
ständig geeignet, den Zuschauer zu erschüttern und fortzureißen; nur hat die Ge¬
legenheit, bei welcher sie zur Darstellung kommen, für die Tragödie doch wieder
ihr Bedenkliches. Vier Kinder der Frau sollen den Martertode im feurigen Ofen ster¬
ben. Diese furchtbare, erntete Thatsache sollen wir mit in Kauf nehmen, aber eine so
unerhörte gransame Begebenheit empört unser menschliches Gefühl in einem Grade,
welcher für die reine tragische Wirkung unvortheilhaft ist. Was haben die rüh¬
renden guten Kinder verschuldet? Wir werden erschüttert bis aufs Innerste, aber
sie jammern uns zu sehr und der Gedanke an ihren qualvollen Tod stört


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/17>, abgerufen am 25.07.2024.