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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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ich ganz etwas Neues erfahren, daß man die klügsten, ja feinsten Dinge sagen
und über jede Gebühr langweilig dabei sein kann. Dialoge sind schon das
Schwerste .... Dieses fortfließende Leben mit seinen unendlichen Voraus¬
setzungen, durch die kleinsten, aber bestimmendsten Züge kenntlich gemacht, gelingt
nur dem lebhaftesten, gründlichsten, leichtesten Bemerker, wenn er die Gabe des
Beurtheilers während der Vertheilung derselben in seineu Werken auf's Höchste
besitzt. Nun kommt Tieck mit roh zusammengestoppelten Reden und Gegenreden,
ohne alle Situation, als die willkürlichste, die mir weder Ort, noch Menschen,
noch Lage zeigt; diese armen Phantasmcigvren gehen in eben solchen Gegenden
spazieren und reden mich wahrlich todt. Der einzige Trost ist, wenn man nach
ihren allseitigen Behauptungen, von denen Tieck selbst nicht weiß, ob sie Scherz
oder Ernst sein sollen, und wenn er Recht giebt, Athem schöpft und sich gratulire,
uicht auch solche geschwätzige Tage mit den Herren und Damen verleben zu müssen!
Ich müßte toll werden in den Sälen, Gärten, bei den Wasserfällen und Brun¬
nen; bei den leblosen Scherzen!" .--Auch in ihren enthusiastischen Urtheilen
über Goethe ist doch immer ein ganz anderer Sinn, als in den stoffloser Apo¬
theosen der Schlegel. In einem Urtheil über Wilhelm Meister spricht sie den
Kern der Goethe'schen Poesie vortrefflich aus, und wenn sie ihn auch unbedingt
gelten läßt, während wir ihn nur in gewissen Grenzen anerkennen, so ist doch
wenigstens die Sache selbst charakteristisch bezeichnet. "Das ganze Buch ist für
mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text darum gewachsen, der im Buche
selbst vorkommt und also lautet: "O wie sonderbar ist es, daß den Menschen
nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt
ist!" .... Mit einem Zauberschlage hat Goethe durch das Buch die ganze
Prosa unsres infamen kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug
vorgehalten .... An Theater mußte er, an Kunst und auch an Schwindelei den
Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich nicht mit Werther todten wollte. . .
Dieses Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten, in welchem
wir errathen, toben, arbeiten, beten müssen, und durchschauen und durchgreifen
tonnen .... Das ist nicht tragisch, was andere Moralisten zeigen, wie man
sich selbst schadet, was man vermeiden könnte, wie man sich Unglück zuzieht, wie
mau mit den Göttern wählen sollte, und nicht ohne sie, wie innerer Friede schätzens-
werther, als anderes Gewünschtes sei; tragisch ist das, was wir durchaus nicht
verstehen, worein wir uns ergeben müssen, welches keine Klugheit, keine Weisheit
zerstören, noch vermeiden kann, wohin unsre innerste Natur uns treibt, reißt, lockt,
unvermeidlich führt und hält; wenn dies uns zerstört und wir mit der Frage
sitzen bleiben: warum? warum mir das, warum ich dazu gemacht? und aller Geist
und alle Kraft uur dazu dient, die Zerstörung zu fassen, zu fühlen oder sich über
sie zu zerstreuen .... Darum finde ich in Goethe's Tasso das tragischste Er¬
eignis). Ganz seiner innersten Natur zuwider muß er sich am Ende an den


ich ganz etwas Neues erfahren, daß man die klügsten, ja feinsten Dinge sagen
und über jede Gebühr langweilig dabei sein kann. Dialoge sind schon das
Schwerste .... Dieses fortfließende Leben mit seinen unendlichen Voraus¬
setzungen, durch die kleinsten, aber bestimmendsten Züge kenntlich gemacht, gelingt
nur dem lebhaftesten, gründlichsten, leichtesten Bemerker, wenn er die Gabe des
Beurtheilers während der Vertheilung derselben in seineu Werken auf's Höchste
besitzt. Nun kommt Tieck mit roh zusammengestoppelten Reden und Gegenreden,
ohne alle Situation, als die willkürlichste, die mir weder Ort, noch Menschen,
noch Lage zeigt; diese armen Phantasmcigvren gehen in eben solchen Gegenden
spazieren und reden mich wahrlich todt. Der einzige Trost ist, wenn man nach
ihren allseitigen Behauptungen, von denen Tieck selbst nicht weiß, ob sie Scherz
oder Ernst sein sollen, und wenn er Recht giebt, Athem schöpft und sich gratulire,
uicht auch solche geschwätzige Tage mit den Herren und Damen verleben zu müssen!
Ich müßte toll werden in den Sälen, Gärten, bei den Wasserfällen und Brun¬
nen; bei den leblosen Scherzen!" .--Auch in ihren enthusiastischen Urtheilen
über Goethe ist doch immer ein ganz anderer Sinn, als in den stoffloser Apo¬
theosen der Schlegel. In einem Urtheil über Wilhelm Meister spricht sie den
Kern der Goethe'schen Poesie vortrefflich aus, und wenn sie ihn auch unbedingt
gelten läßt, während wir ihn nur in gewissen Grenzen anerkennen, so ist doch
wenigstens die Sache selbst charakteristisch bezeichnet. „Das ganze Buch ist für
mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text darum gewachsen, der im Buche
selbst vorkommt und also lautet: „O wie sonderbar ist es, daß den Menschen
nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt
ist!" .... Mit einem Zauberschlage hat Goethe durch das Buch die ganze
Prosa unsres infamen kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug
vorgehalten .... An Theater mußte er, an Kunst und auch an Schwindelei den
Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich nicht mit Werther todten wollte. . .
Dieses Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten, in welchem
wir errathen, toben, arbeiten, beten müssen, und durchschauen und durchgreifen
tonnen .... Das ist nicht tragisch, was andere Moralisten zeigen, wie man
sich selbst schadet, was man vermeiden könnte, wie man sich Unglück zuzieht, wie
mau mit den Göttern wählen sollte, und nicht ohne sie, wie innerer Friede schätzens-
werther, als anderes Gewünschtes sei; tragisch ist das, was wir durchaus nicht
verstehen, worein wir uns ergeben müssen, welches keine Klugheit, keine Weisheit
zerstören, noch vermeiden kann, wohin unsre innerste Natur uns treibt, reißt, lockt,
unvermeidlich führt und hält; wenn dies uns zerstört und wir mit der Frage
sitzen bleiben: warum? warum mir das, warum ich dazu gemacht? und aller Geist
und alle Kraft uur dazu dient, die Zerstörung zu fassen, zu fühlen oder sich über
sie zu zerstreuen .... Darum finde ich in Goethe's Tasso das tragischste Er¬
eignis). Ganz seiner innersten Natur zuwider muß er sich am Ende an den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/58>, abgerufen am 20.10.2024.