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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬
literatur.
R a h e l.
(geboren -1771, gestorben 1833.)

Wir sind in Deutschland mehr als anderwärts daran gewöhnt, diejenigen zu
überschätzen, die sich mit der Tendenz begnügen, und weil sie niemals etwas
vollenden, weder in logischer Deduction, n.och in darstellender Gestaltung, sich im
Unendlichen bewegen können. Darum sind wir bei Frauen sehr bald geneigt, zu
bewundern und anzustaunen, wo wir nur etwas über das Gewöhnliche Hinaus¬
geführtwerden. Gedanken, deren Vermittelung wir nicht kennen, überraschen und be¬
wegen uns wie Inspirationen, und je weniger wir uns in dem Kreise unsrer eigenen
Ideen sicher fühlen, desto wehrloser trifft uns jeder Schlag einer Paradoxie,
eines Aphorism. Kein Volk kennt so viel aphoristische Schriftsteller, als Deutsch¬
land; und zwar meinen wir hier Aphorismen im strengsten Sinne, d. h. aus dem
Zusammenhang gerissene, unvollständige, durch eine besondere, uns nicht bezeichnete
Stimmung gefärbte und daher nur halb verständliche Gedanken, nicht etwa
Aphorismen in dem Sinn eines Pascal oder Larochefaucould, die, wenn auch
in prägnanter Form, und in der Regel in der Form des Witzes, doch einen in
sich abgeschlossenen, allgemein giltigen Gedanken ausdrücken. Man vergißt dabei,
daß es leichter ist, Contraste lebhaft zu empfinden und wiederzugeben, als sie
einer geordneten Lösung zuzuführen, daß also jede Gestaltungskraft, sei es nun
wissenschaftliche oder künstlerische, unendlich hoher steht, als die zerstreute Eingebung,
mit wie viel Geist sie auch verknüpft sein mag.

Wenn wir diese Betrachtungen auf Nadel anwenden, so wollen wir nur die
Grenzen bezeichnen, über die wir in der literarischen Anerkennung dieser außer¬
ordentlichen Frau nicht hinausgehn dürfen; keineswegs aber ihren wirklichen, sehr
hohen Werth schmälern. Sie als Schriftstellerin z. B. über Frau v. Stael oder


Grenzboten. IV. 18S2. 6
Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬
literatur.
R a h e l.
(geboren -1771, gestorben 1833.)

Wir sind in Deutschland mehr als anderwärts daran gewöhnt, diejenigen zu
überschätzen, die sich mit der Tendenz begnügen, und weil sie niemals etwas
vollenden, weder in logischer Deduction, n.och in darstellender Gestaltung, sich im
Unendlichen bewegen können. Darum sind wir bei Frauen sehr bald geneigt, zu
bewundern und anzustaunen, wo wir nur etwas über das Gewöhnliche Hinaus¬
geführtwerden. Gedanken, deren Vermittelung wir nicht kennen, überraschen und be¬
wegen uns wie Inspirationen, und je weniger wir uns in dem Kreise unsrer eigenen
Ideen sicher fühlen, desto wehrloser trifft uns jeder Schlag einer Paradoxie,
eines Aphorism. Kein Volk kennt so viel aphoristische Schriftsteller, als Deutsch¬
land; und zwar meinen wir hier Aphorismen im strengsten Sinne, d. h. aus dem
Zusammenhang gerissene, unvollständige, durch eine besondere, uns nicht bezeichnete
Stimmung gefärbte und daher nur halb verständliche Gedanken, nicht etwa
Aphorismen in dem Sinn eines Pascal oder Larochefaucould, die, wenn auch
in prägnanter Form, und in der Regel in der Form des Witzes, doch einen in
sich abgeschlossenen, allgemein giltigen Gedanken ausdrücken. Man vergißt dabei,
daß es leichter ist, Contraste lebhaft zu empfinden und wiederzugeben, als sie
einer geordneten Lösung zuzuführen, daß also jede Gestaltungskraft, sei es nun
wissenschaftliche oder künstlerische, unendlich hoher steht, als die zerstreute Eingebung,
mit wie viel Geist sie auch verknüpft sein mag.

Wenn wir diese Betrachtungen auf Nadel anwenden, so wollen wir nur die
Grenzen bezeichnen, über die wir in der literarischen Anerkennung dieser außer¬
ordentlichen Frau nicht hinausgehn dürfen; keineswegs aber ihren wirklichen, sehr
hohen Werth schmälern. Sie als Schriftstellerin z. B. über Frau v. Stael oder


Grenzboten. IV. 18S2. 6
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[0051] Charakterbilder aus der deutschen Restaurations¬ literatur. R a h e l. (geboren -1771, gestorben 1833.) Wir sind in Deutschland mehr als anderwärts daran gewöhnt, diejenigen zu überschätzen, die sich mit der Tendenz begnügen, und weil sie niemals etwas vollenden, weder in logischer Deduction, n.och in darstellender Gestaltung, sich im Unendlichen bewegen können. Darum sind wir bei Frauen sehr bald geneigt, zu bewundern und anzustaunen, wo wir nur etwas über das Gewöhnliche Hinaus¬ geführtwerden. Gedanken, deren Vermittelung wir nicht kennen, überraschen und be¬ wegen uns wie Inspirationen, und je weniger wir uns in dem Kreise unsrer eigenen Ideen sicher fühlen, desto wehrloser trifft uns jeder Schlag einer Paradoxie, eines Aphorism. Kein Volk kennt so viel aphoristische Schriftsteller, als Deutsch¬ land; und zwar meinen wir hier Aphorismen im strengsten Sinne, d. h. aus dem Zusammenhang gerissene, unvollständige, durch eine besondere, uns nicht bezeichnete Stimmung gefärbte und daher nur halb verständliche Gedanken, nicht etwa Aphorismen in dem Sinn eines Pascal oder Larochefaucould, die, wenn auch in prägnanter Form, und in der Regel in der Form des Witzes, doch einen in sich abgeschlossenen, allgemein giltigen Gedanken ausdrücken. Man vergißt dabei, daß es leichter ist, Contraste lebhaft zu empfinden und wiederzugeben, als sie einer geordneten Lösung zuzuführen, daß also jede Gestaltungskraft, sei es nun wissenschaftliche oder künstlerische, unendlich hoher steht, als die zerstreute Eingebung, mit wie viel Geist sie auch verknüpft sein mag. Wenn wir diese Betrachtungen auf Nadel anwenden, so wollen wir nur die Grenzen bezeichnen, über die wir in der literarischen Anerkennung dieser außer¬ ordentlichen Frau nicht hinausgehn dürfen; keineswegs aber ihren wirklichen, sehr hohen Werth schmälern. Sie als Schriftstellerin z. B. über Frau v. Stael oder Grenzboten. IV. 18S2. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/51>, abgerufen am 27.09.2024.