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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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bäuerlichen Communallebens, erläutert und veranschaulicht durch Einzelschilderungen
von Gemeinden und Dörfern in den verschiedensten Gouvernements, ausgestattet
mit einer zahlreichen Reihe statistischer Nachrichten, ist jedenfalls für die richtige
Beurtheilung des russischen Jnnerlebens ein außerordentlich wichtiges Material.
Noch unbekannter im größern Publicum und mindestens eben so wichtig für die
Erlangung eines richtigen Urtheils über russische Zustände waren die thatsächlichen
Angaben über die orthodoxe russische Kirche und das Sectirerwesen. Wunderbar
aber, daß derselbe Mann aus seinen Beobachtungen keine selbstständigen Resultate
zog, sondern seinem Raisonnement offenbar jene Urtheile zu Grunde legte, welche
dem Fremden in Rußland, besonders wenn etwas von seinen schriftstellerischen
Absichten verlautet, von allen Seiten in einem gewissermaßen confideutiellen Ge¬
wände entgegengetragen und mit den feinsten Formen aufgezwungen werden. Wer
russisches Volksleben recht mit eigenen Augen sehen, wer sich ein wirklich un¬
befangenes Urtheil darüber bilden will, der muß zuerst die russische Gesellschaft
' kennen, muß sehr lange in ihren verschiedensten Kreisen verkehrt sein, um aus der
sammetnen Ummantelung ihrer Confidenzen, durch Zusammenstellung mit den eige¬
nen, von Autoritätspersonen ungeleiteter Anschauungen des Volkslebens und der
Volkszustände, wirkliche Goldkörner herauszuschälen. Jedermann fühlt selbst,
wenn er Tagebücher der ersten Zeit eines russischen Aufenthaltes mit den Wahr¬
nehmungen späterer Zeit vergleicht, daß in den aufgenommenen Urtheilen aller¬
dings viel positiv Richtiges ist; daß aber vor der vollen Ergründung des Wie
und Warum noch ein flitternder Schleier liegt, dessen theilweise Lichtung uns sogar
meistens erst dann gelingt, wenn unsre Eindrücke, Beobachtungen, Erfahrungen
nicht mehr in lauter abgegrenzten Einzelbildern vor uns liegen, sondern mehr
in einander verflossen als Panorama, wie eine Atmosphäre uns umgeben. Ans
diesem Gefühl ist offenbar der dritte Band des Haxthausen'schen Werkes hervor¬
gegangen. Er recapitulirt gewissermaßen ständeweis die reisebeschreibenden An- und
Ausführungen der'fünf und sechs Jahre zurückliegenden ersten Arbeit. Dadurch
ist das Urtheil weit selbstständiger, sind die Resultate weit gediegener geworden.
Wer jedoch zu einer wahrhaften Stellung über den Parteien gelangen will, darf
bei einer solchermaßen kritischen Arbeit neben den eigenen Beobachtungen und
positiven Erfahrungen die anderer literarischer Vorgänger auf demselben Felde
nicht ignoriren. Er muß die Literatur seines Faches kennen, selbst die schlechte; er
muß auf seine eigenen Beobachtungen' und Schlüsse die Probe machen, besonders
wo er sich nicht ganz klar ist; er muß namentlich auch seine positiven Angaben,
die Wurzeln der Logik seines Werkes, mit eben so glaubwürdige" anderen ver-,
- gleichen. Dies hat Hr. 5. Haxthausen theils gar nicht, theils sehr ungenügend
gethan; der ganze dritte Band steht überhaupt aus, als fehle ihm die Feile der
materiellen und formellen Selbstkritik. Sogar über das specielle Feld seiner
Aufmerksamkeit, über die bäuerlichen Verhältnisse, würde nothwendig der Verf.


bäuerlichen Communallebens, erläutert und veranschaulicht durch Einzelschilderungen
von Gemeinden und Dörfern in den verschiedensten Gouvernements, ausgestattet
mit einer zahlreichen Reihe statistischer Nachrichten, ist jedenfalls für die richtige
Beurtheilung des russischen Jnnerlebens ein außerordentlich wichtiges Material.
Noch unbekannter im größern Publicum und mindestens eben so wichtig für die
Erlangung eines richtigen Urtheils über russische Zustände waren die thatsächlichen
Angaben über die orthodoxe russische Kirche und das Sectirerwesen. Wunderbar
aber, daß derselbe Mann aus seinen Beobachtungen keine selbstständigen Resultate
zog, sondern seinem Raisonnement offenbar jene Urtheile zu Grunde legte, welche
dem Fremden in Rußland, besonders wenn etwas von seinen schriftstellerischen
Absichten verlautet, von allen Seiten in einem gewissermaßen confideutiellen Ge¬
wände entgegengetragen und mit den feinsten Formen aufgezwungen werden. Wer
russisches Volksleben recht mit eigenen Augen sehen, wer sich ein wirklich un¬
befangenes Urtheil darüber bilden will, der muß zuerst die russische Gesellschaft
' kennen, muß sehr lange in ihren verschiedensten Kreisen verkehrt sein, um aus der
sammetnen Ummantelung ihrer Confidenzen, durch Zusammenstellung mit den eige¬
nen, von Autoritätspersonen ungeleiteter Anschauungen des Volkslebens und der
Volkszustände, wirkliche Goldkörner herauszuschälen. Jedermann fühlt selbst,
wenn er Tagebücher der ersten Zeit eines russischen Aufenthaltes mit den Wahr¬
nehmungen späterer Zeit vergleicht, daß in den aufgenommenen Urtheilen aller¬
dings viel positiv Richtiges ist; daß aber vor der vollen Ergründung des Wie
und Warum noch ein flitternder Schleier liegt, dessen theilweise Lichtung uns sogar
meistens erst dann gelingt, wenn unsre Eindrücke, Beobachtungen, Erfahrungen
nicht mehr in lauter abgegrenzten Einzelbildern vor uns liegen, sondern mehr
in einander verflossen als Panorama, wie eine Atmosphäre uns umgeben. Ans
diesem Gefühl ist offenbar der dritte Band des Haxthausen'schen Werkes hervor¬
gegangen. Er recapitulirt gewissermaßen ständeweis die reisebeschreibenden An- und
Ausführungen der'fünf und sechs Jahre zurückliegenden ersten Arbeit. Dadurch
ist das Urtheil weit selbstständiger, sind die Resultate weit gediegener geworden.
Wer jedoch zu einer wahrhaften Stellung über den Parteien gelangen will, darf
bei einer solchermaßen kritischen Arbeit neben den eigenen Beobachtungen und
positiven Erfahrungen die anderer literarischer Vorgänger auf demselben Felde
nicht ignoriren. Er muß die Literatur seines Faches kennen, selbst die schlechte; er
muß auf seine eigenen Beobachtungen' und Schlüsse die Probe machen, besonders
wo er sich nicht ganz klar ist; er muß namentlich auch seine positiven Angaben,
die Wurzeln der Logik seines Werkes, mit eben so glaubwürdige» anderen ver-,
- gleichen. Dies hat Hr. 5. Haxthausen theils gar nicht, theils sehr ungenügend
gethan; der ganze dritte Band steht überhaupt aus, als fehle ihm die Feile der
materiellen und formellen Selbstkritik. Sogar über das specielle Feld seiner
Aufmerksamkeit, über die bäuerlichen Verhältnisse, würde nothwendig der Verf.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/40>, abgerufen am 27.09.2024.