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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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und Rosetten, die Blätter und die Blumenkronen einer Cathedrale des Mittel¬
alters. Da ist nichts wahrzunehmen, was nicht auf eine innere Nothwendigkeit
oder doch ans einen bestimmten Zweck hindeutete, während es zugleich den Adel
des Kunstschönen an der Stirne trägt. So die Strebepfeiler mit ihren Gesimsen,
Wetterschlägen, Spitzsäulen und Wasserspeiern, so die freistehenden Fialen, die
Strebebogen und die Arkaden, so die Bogen und die Gewölbe mit ihren Kappen
und ihrem Gurtwcrke -- kurz Alles, von den Neigungswinkeln der Thurmspitzen
und Dächer an, bis zu den Beschlägen der Thore herab, zeigt das Be¬
streben, das Technische und Mechanische zum Vehikel der Kunst
zumachen und das Schöne ans dem Nothwendigen erwachsen zu
lassen.

Jene hochgethürmten Strebepfeiler, welche den gothischen Kirchenbau
umragen, erfüllen dnrch ihre stolze Höhe zugleich einen praktischen Zweck, indem
dadurch der Druck auf die Gewölbewiderlagen verstärkt und folgeweise deren
Wirkung erhöht wird; die Strebebogen, welche die Bestimmung haben, den
Schub der Gewölbe auf die Strebepfeiler zu übertragen, sieht man zugleich zum
schönsten, originellsten Schmnckwerke sich gestalten; die Brechungen, Vorsprünge
und Abfaseruugcn dienen gleichfalls nicht minder dem Schönheitszwecke durch
das wechselnde, phantastische Spiel von Licht und Schatten, welches sie hervorbringen,
als dem technischen Bedürfnisse, indem sie theils als Stütze dienen, theils die Massen in
unmerklicher Weise beseitigen, wie dieselben bei zunehmender Höhe überflüssig werden,
oder gar im Wege stehen. Die steilen, spitzwinkeligen Bedachungen erwecken dnrch
ihre Form diejJdce der Vergeistigung, des steten Aufschwunges nach Oben; sie ent¬
sprechen aber auch zugleich den klimatischen Verhältnissen unsres Himmelsstriches
am meisten und bieten den Angriffen der Elemente am wirksamsten Trotz. Der
überall wiederkehrende, so überaus elastische, allen Verhältnissen sich auschmie¬
gende Spitzbogen gestattet, indem er den Druck auf die Stützen möglichst loth¬
recht wirken läßt, die größte Höhe bei geringster Masse und Spannung, und
bringt zugleich, in Verbindung mit den auf- und abpülsirenden Gurten und
den auf den schlanken Pfeilern schwebend gehaltenen Wölbungen, jene magische
Perspective hervor, die uns beim Eintritt in die Tempelhalle an den Boden
fesselt. Das mannichfaltige Sprossenwerk in den Fenstern zeigt die schönste
Abwechselung wie das sinnvollste Formenspiel; es kommt aber zugleich nicht minder
einem praktischen Bedürfnisse entgegen, indem es den weitgespannten, kühnen
Fensterbogen als Stütze und den lichtdurchwirkten Prachtteppichen ans Glas als
Rahmen dient. -- Alle Profilirungen sind an den größeren mittelalterlichen
Bauwerken stets mit Rücksicht auf die Gesetze des Sehens so angelegt, daß mög¬
lichst viele Punkte in's Ange fallen; alle Gliederungen tiefen sich in die Wand¬
flächen ein, um uicht als nutzlose Auswüchse zu erscheinen und den Grundcharakter
des Ganzen möglichst wenig zu beeinträchtigen; sie sind aber auch wieder uicht


und Rosetten, die Blätter und die Blumenkronen einer Cathedrale des Mittel¬
alters. Da ist nichts wahrzunehmen, was nicht auf eine innere Nothwendigkeit
oder doch ans einen bestimmten Zweck hindeutete, während es zugleich den Adel
des Kunstschönen an der Stirne trägt. So die Strebepfeiler mit ihren Gesimsen,
Wetterschlägen, Spitzsäulen und Wasserspeiern, so die freistehenden Fialen, die
Strebebogen und die Arkaden, so die Bogen und die Gewölbe mit ihren Kappen
und ihrem Gurtwcrke — kurz Alles, von den Neigungswinkeln der Thurmspitzen
und Dächer an, bis zu den Beschlägen der Thore herab, zeigt das Be¬
streben, das Technische und Mechanische zum Vehikel der Kunst
zumachen und das Schöne ans dem Nothwendigen erwachsen zu
lassen.

Jene hochgethürmten Strebepfeiler, welche den gothischen Kirchenbau
umragen, erfüllen dnrch ihre stolze Höhe zugleich einen praktischen Zweck, indem
dadurch der Druck auf die Gewölbewiderlagen verstärkt und folgeweise deren
Wirkung erhöht wird; die Strebebogen, welche die Bestimmung haben, den
Schub der Gewölbe auf die Strebepfeiler zu übertragen, sieht man zugleich zum
schönsten, originellsten Schmnckwerke sich gestalten; die Brechungen, Vorsprünge
und Abfaseruugcn dienen gleichfalls nicht minder dem Schönheitszwecke durch
das wechselnde, phantastische Spiel von Licht und Schatten, welches sie hervorbringen,
als dem technischen Bedürfnisse, indem sie theils als Stütze dienen, theils die Massen in
unmerklicher Weise beseitigen, wie dieselben bei zunehmender Höhe überflüssig werden,
oder gar im Wege stehen. Die steilen, spitzwinkeligen Bedachungen erwecken dnrch
ihre Form diejJdce der Vergeistigung, des steten Aufschwunges nach Oben; sie ent¬
sprechen aber auch zugleich den klimatischen Verhältnissen unsres Himmelsstriches
am meisten und bieten den Angriffen der Elemente am wirksamsten Trotz. Der
überall wiederkehrende, so überaus elastische, allen Verhältnissen sich auschmie¬
gende Spitzbogen gestattet, indem er den Druck auf die Stützen möglichst loth¬
recht wirken läßt, die größte Höhe bei geringster Masse und Spannung, und
bringt zugleich, in Verbindung mit den auf- und abpülsirenden Gurten und
den auf den schlanken Pfeilern schwebend gehaltenen Wölbungen, jene magische
Perspective hervor, die uns beim Eintritt in die Tempelhalle an den Boden
fesselt. Das mannichfaltige Sprossenwerk in den Fenstern zeigt die schönste
Abwechselung wie das sinnvollste Formenspiel; es kommt aber zugleich nicht minder
einem praktischen Bedürfnisse entgegen, indem es den weitgespannten, kühnen
Fensterbogen als Stütze und den lichtdurchwirkten Prachtteppichen ans Glas als
Rahmen dient. — Alle Profilirungen sind an den größeren mittelalterlichen
Bauwerken stets mit Rücksicht auf die Gesetze des Sehens so angelegt, daß mög¬
lichst viele Punkte in's Ange fallen; alle Gliederungen tiefen sich in die Wand¬
flächen ein, um uicht als nutzlose Auswüchse zu erscheinen und den Grundcharakter
des Ganzen möglichst wenig zu beeinträchtigen; sie sind aber auch wieder uicht


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[0352] und Rosetten, die Blätter und die Blumenkronen einer Cathedrale des Mittel¬ alters. Da ist nichts wahrzunehmen, was nicht auf eine innere Nothwendigkeit oder doch ans einen bestimmten Zweck hindeutete, während es zugleich den Adel des Kunstschönen an der Stirne trägt. So die Strebepfeiler mit ihren Gesimsen, Wetterschlägen, Spitzsäulen und Wasserspeiern, so die freistehenden Fialen, die Strebebogen und die Arkaden, so die Bogen und die Gewölbe mit ihren Kappen und ihrem Gurtwcrke — kurz Alles, von den Neigungswinkeln der Thurmspitzen und Dächer an, bis zu den Beschlägen der Thore herab, zeigt das Be¬ streben, das Technische und Mechanische zum Vehikel der Kunst zumachen und das Schöne ans dem Nothwendigen erwachsen zu lassen. Jene hochgethürmten Strebepfeiler, welche den gothischen Kirchenbau umragen, erfüllen dnrch ihre stolze Höhe zugleich einen praktischen Zweck, indem dadurch der Druck auf die Gewölbewiderlagen verstärkt und folgeweise deren Wirkung erhöht wird; die Strebebogen, welche die Bestimmung haben, den Schub der Gewölbe auf die Strebepfeiler zu übertragen, sieht man zugleich zum schönsten, originellsten Schmnckwerke sich gestalten; die Brechungen, Vorsprünge und Abfaseruugcn dienen gleichfalls nicht minder dem Schönheitszwecke durch das wechselnde, phantastische Spiel von Licht und Schatten, welches sie hervorbringen, als dem technischen Bedürfnisse, indem sie theils als Stütze dienen, theils die Massen in unmerklicher Weise beseitigen, wie dieselben bei zunehmender Höhe überflüssig werden, oder gar im Wege stehen. Die steilen, spitzwinkeligen Bedachungen erwecken dnrch ihre Form diejJdce der Vergeistigung, des steten Aufschwunges nach Oben; sie ent¬ sprechen aber auch zugleich den klimatischen Verhältnissen unsres Himmelsstriches am meisten und bieten den Angriffen der Elemente am wirksamsten Trotz. Der überall wiederkehrende, so überaus elastische, allen Verhältnissen sich auschmie¬ gende Spitzbogen gestattet, indem er den Druck auf die Stützen möglichst loth¬ recht wirken läßt, die größte Höhe bei geringster Masse und Spannung, und bringt zugleich, in Verbindung mit den auf- und abpülsirenden Gurten und den auf den schlanken Pfeilern schwebend gehaltenen Wölbungen, jene magische Perspective hervor, die uns beim Eintritt in die Tempelhalle an den Boden fesselt. Das mannichfaltige Sprossenwerk in den Fenstern zeigt die schönste Abwechselung wie das sinnvollste Formenspiel; es kommt aber zugleich nicht minder einem praktischen Bedürfnisse entgegen, indem es den weitgespannten, kühnen Fensterbogen als Stütze und den lichtdurchwirkten Prachtteppichen ans Glas als Rahmen dient. — Alle Profilirungen sind an den größeren mittelalterlichen Bauwerken stets mit Rücksicht auf die Gesetze des Sehens so angelegt, daß mög¬ lichst viele Punkte in's Ange fallen; alle Gliederungen tiefen sich in die Wand¬ flächen ein, um uicht als nutzlose Auswüchse zu erscheinen und den Grundcharakter des Ganzen möglichst wenig zu beeinträchtigen; sie sind aber auch wieder uicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/352>, abgerufen am 27.09.2024.