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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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seiner Jugend kaum eine Schule besucht, und es fehlte ihm selbst die solide Grund¬
lage für das Wissen, welches ein erträglicher Gymnasialunterricht giebt. Dieser
Mangel hat ihn sein ganzes Leben lang schwer gedrückt, denn er verurtheilte ihn
dazu, fast überall Dilettant zu bleiben. Aber Mühe hat er redlich auf seine
Bildung verwendet, mit eisernem Fleiß warf er sich auf das Griechische, -- er lerute
den Homer und die Tragiker verstehen, später auf das Lateinische, -- er hat mehrere
lateinische Abhandlungen geschrieben; noch später lernte er Englisch und übte sich
in den übrigen romanischen Sprachen. Endlich, erst als er in den dreißiger
Jahren war, erfaßte er das Studium der Naturwissenschaften, die Wissenschaft,
in welcher er sich das Bürgerrecht gewann und Förderndes zu Tage brachte.

Eine dritte löbliche Eigenschaft der Verbrüderung zum Nordstern war die
fröhliche, gemüthvolle Geselligkeit, welche den Kreis belebte. Mit drolliger Laune,
lustigen Geschichten und treuherziger Behaglichkeit verkehrten die Jünglinge uuter
einander. Der empfängliche ^Chamisso gab sich dem Entzücken dieses Gesellen¬
verkehrs ganz hin. Dort hat er sein berühmtes Tabakrauchen zu der hohen
Virtuosität ausgebildet, die ihn bis an sein Lebensende ausgezeichnet hat; dort
entwöhnte er sich aber auch von mancher Rücksicht, welche die exklusive Gesellschaft
von dem Menschen, der sich darin wohl fühlen will, fordert. Und obgleich er,
der französische Edelmann, Formen und Convenienz feiner Kreise wohl zu be¬
obachten wußte, wenn es daraus ankam, so fühlte er sich doch darin genirt und
machte sich gern von ihnen los, wo er irgend konnte. Er widersprach sehr ener¬
gisch, wo Toleranz besser gewesen wäre, schwieg hartnäckig, wo er hätte reden
sollen, verfocht gewagte Behauptungen und kleidete sich am liebsten, wie es ihm
bequem war, ohne die Leute zu fragen, ob ihnen der Schnitt seines Rocks passend
erschien. Darin wurde er ziemlich früh ein Original, welches seine Freunde
manchmal in kleine Verlegenheiten setzte. Wenn er später als Student botani-
siren ging, wandelte er durch die Straßen Berlins in seltsamem Aufzuge, der
seine Begleiter bewog, mit ihm durch obscure Gäßchen zu ziehen und die Heer¬
straßen zu vermeiden. Als er bei Frau v. StaÄ auf den Schlössern lebte, wohin
sie der Zorn Napoleon's verbannt hatte, wurde ihm das Tabakwnchen auch in
seiner Stube nicht gestattet, weil eine Engländerin, welche seine Nach¬
barin war, sich darüber beklagte, da ging er trotzig wie ein Stachelschwein
in die geheimsten Räume des Hauses und räucherte von dort das Haus ein.
Als er auf dem Rurik die Reise um die Welt machte, und die russischen Ma¬
trosen sich weigerten, dem Gelehrten die Stiefeln zu putze", trug er kaltblütig
drei Jahre laug ungeputzte Stiefeln. Als die erste Nachricht von der Juli-
revolution nach Berlin kam, lief er, damals schon ein würdiger Herr, im größten
Neglige, ohne Hut, in Pantoffeln, durch die Stadt zu seinem Freunde Hitzig,
und als er einst in seiner Zärtlichkeit für die Südsee-Insulaner erklärt hatte, er
halte es sür höchst comfortabel, im Sommer ganz ohne Bekleidung spazieren zu


seiner Jugend kaum eine Schule besucht, und es fehlte ihm selbst die solide Grund¬
lage für das Wissen, welches ein erträglicher Gymnasialunterricht giebt. Dieser
Mangel hat ihn sein ganzes Leben lang schwer gedrückt, denn er verurtheilte ihn
dazu, fast überall Dilettant zu bleiben. Aber Mühe hat er redlich auf seine
Bildung verwendet, mit eisernem Fleiß warf er sich auf das Griechische, — er lerute
den Homer und die Tragiker verstehen, später auf das Lateinische, — er hat mehrere
lateinische Abhandlungen geschrieben; noch später lernte er Englisch und übte sich
in den übrigen romanischen Sprachen. Endlich, erst als er in den dreißiger
Jahren war, erfaßte er das Studium der Naturwissenschaften, die Wissenschaft,
in welcher er sich das Bürgerrecht gewann und Förderndes zu Tage brachte.

Eine dritte löbliche Eigenschaft der Verbrüderung zum Nordstern war die
fröhliche, gemüthvolle Geselligkeit, welche den Kreis belebte. Mit drolliger Laune,
lustigen Geschichten und treuherziger Behaglichkeit verkehrten die Jünglinge uuter
einander. Der empfängliche ^Chamisso gab sich dem Entzücken dieses Gesellen¬
verkehrs ganz hin. Dort hat er sein berühmtes Tabakrauchen zu der hohen
Virtuosität ausgebildet, die ihn bis an sein Lebensende ausgezeichnet hat; dort
entwöhnte er sich aber auch von mancher Rücksicht, welche die exklusive Gesellschaft
von dem Menschen, der sich darin wohl fühlen will, fordert. Und obgleich er,
der französische Edelmann, Formen und Convenienz feiner Kreise wohl zu be¬
obachten wußte, wenn es daraus ankam, so fühlte er sich doch darin genirt und
machte sich gern von ihnen los, wo er irgend konnte. Er widersprach sehr ener¬
gisch, wo Toleranz besser gewesen wäre, schwieg hartnäckig, wo er hätte reden
sollen, verfocht gewagte Behauptungen und kleidete sich am liebsten, wie es ihm
bequem war, ohne die Leute zu fragen, ob ihnen der Schnitt seines Rocks passend
erschien. Darin wurde er ziemlich früh ein Original, welches seine Freunde
manchmal in kleine Verlegenheiten setzte. Wenn er später als Student botani-
siren ging, wandelte er durch die Straßen Berlins in seltsamem Aufzuge, der
seine Begleiter bewog, mit ihm durch obscure Gäßchen zu ziehen und die Heer¬
straßen zu vermeiden. Als er bei Frau v. StaÄ auf den Schlössern lebte, wohin
sie der Zorn Napoleon's verbannt hatte, wurde ihm das Tabakwnchen auch in
seiner Stube nicht gestattet, weil eine Engländerin, welche seine Nach¬
barin war, sich darüber beklagte, da ging er trotzig wie ein Stachelschwein
in die geheimsten Räume des Hauses und räucherte von dort das Haus ein.
Als er auf dem Rurik die Reise um die Welt machte, und die russischen Ma¬
trosen sich weigerten, dem Gelehrten die Stiefeln zu putze», trug er kaltblütig
drei Jahre laug ungeputzte Stiefeln. Als die erste Nachricht von der Juli-
revolution nach Berlin kam, lief er, damals schon ein würdiger Herr, im größten
Neglige, ohne Hut, in Pantoffeln, durch die Stadt zu seinem Freunde Hitzig,
und als er einst in seiner Zärtlichkeit für die Südsee-Insulaner erklärt hatte, er
halte es sür höchst comfortabel, im Sommer ganz ohne Bekleidung spazieren zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/316>, abgerufen am 27.09.2024.