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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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nicht dadurch verbittern will, daß er in Ermangelung einee Paßkarte mit einem
Passe reisen muß, bilden eine unendliche Kette mehr oder minder abhängiger
Personen, in denen die Rücksicht auf den eigenen Vortheil kaum noch einer ander¬
weitigen Anregung, Warnung oder Drohung bedarf, um maßgebend zu wirken.
Unter solchen Umständen ist es um so höher anzuschlagen, daß sich bei den dies¬
maligen Wahlen ziemlich allgemein die Tendenz kund gab, keine Beamten zu
zu wählen; und in dieser leisen Dämmerung eines politischen Bewußtseins wird
man immerhin einen Fortschritt erkennen, wenn er auch bei weitem noch nicht
genügend ist, ein günstiges Endresultat der Wahlen zu sichern. Nach der Be¬
rechnung der Kreuzzeitung treten unter den Wahlmännern 170 königliche Beamte
neben ö00 Gewerbtreibenden, Künstlern und Fabrikanten und 2i8 Kaufleuten
auf. Freilich sind anch unter den Gewerbtreibenden viel abhängige Personen;
allein diese Distinction scheint für den Urwähler zur Zeit noch zu sein gewesen
zu sein.

Was die politische Färbung der Wahlmänner betrifft, so darf die liberale
Partei in Berlin nicht gerade alle Hoffnung aufgeben. Von deu vier Wahlkreisen,
in welche die Stadt zerlegt ist, stehen die Liberalen im zweiten am günstigsten,
im dritten am ungünstigsten. Doch haben sie überall einen ziemlich compacten
Kern, auf dessen Anziehungskraft es ankommen wird. Kandidaten sind, während
ich dieses schreibe, definitiv noch nicht aufgestellt. Kühne wird, wie ich höre, in
allen vier Kreisen genannt; v. Patow in den drei ersten. Hansemann, der dnrch
die Begründung der überaus segensreich wirkenden Discontocasse einen großen
Theil seiner Popularität wiedergewonnen hat, findet im zweitem Kreise viel An¬
klang; ans Pochhammcr richtet man im zweiten und dritten seine Aufmerksamkeit.
Dannenberger, der bei der letzten Berliner Wahl gewählt wurde und sich in der Kammer
der'Linken anschloß, bei der Pairiefrage aber von der Majorität der liberalen Partei
sich trennte, hat auch jetzt im zweiten Kreise günstige Aussichten. Außerdem
nennt man unter den liberalen Wahlmännern hier nud dort Ulsert, Riedel u. A.
Die definitive Feststellung der Kandidaten wird schwerlich vor dem Anfang der
nächsten Woche stattfinden, wenn die Stimmung der einzelnen Wahlkreise besser
bekannt ist; bis dahin tauchen auch vielleicht audere Namen ans. Die Gegner
werden wahrscheinlich die Minister aufstellen. Ob es möglich sein wird', Geppert
zu entrinnen, läßt sich noch uicht absehen.

Der Harkort'sche WahlkatechiSmns, der übrigens hier in Berlin nicht sehr
verbreitet zu sein scheint, ist deu Gegnern sehr verdrießlich gewesen; man hat durch
Verbreitung des Gerüchts von seiner Confiscation die Circulation der Schrift zu
hemmen gesucht. Doch kann nach preußischen Gesetzen hier weder eine Confiscation,
noch ein Verbot stattfinden; eine Confiscation deshalb nicht, weil die Schrift nicht
in den Buchhandel kommen sollte nud gekommen ist, und weil sie auch nirgends
an öffentlichen Orten ausgelegt wird; und die Befugniß des Ministers des Innern,


Grenzboten. IV. 18os.

nicht dadurch verbittern will, daß er in Ermangelung einee Paßkarte mit einem
Passe reisen muß, bilden eine unendliche Kette mehr oder minder abhängiger
Personen, in denen die Rücksicht auf den eigenen Vortheil kaum noch einer ander¬
weitigen Anregung, Warnung oder Drohung bedarf, um maßgebend zu wirken.
Unter solchen Umständen ist es um so höher anzuschlagen, daß sich bei den dies¬
maligen Wahlen ziemlich allgemein die Tendenz kund gab, keine Beamten zu
zu wählen; und in dieser leisen Dämmerung eines politischen Bewußtseins wird
man immerhin einen Fortschritt erkennen, wenn er auch bei weitem noch nicht
genügend ist, ein günstiges Endresultat der Wahlen zu sichern. Nach der Be¬
rechnung der Kreuzzeitung treten unter den Wahlmännern 170 königliche Beamte
neben ö00 Gewerbtreibenden, Künstlern und Fabrikanten und 2i8 Kaufleuten
auf. Freilich sind anch unter den Gewerbtreibenden viel abhängige Personen;
allein diese Distinction scheint für den Urwähler zur Zeit noch zu sein gewesen
zu sein.

Was die politische Färbung der Wahlmänner betrifft, so darf die liberale
Partei in Berlin nicht gerade alle Hoffnung aufgeben. Von deu vier Wahlkreisen,
in welche die Stadt zerlegt ist, stehen die Liberalen im zweiten am günstigsten,
im dritten am ungünstigsten. Doch haben sie überall einen ziemlich compacten
Kern, auf dessen Anziehungskraft es ankommen wird. Kandidaten sind, während
ich dieses schreibe, definitiv noch nicht aufgestellt. Kühne wird, wie ich höre, in
allen vier Kreisen genannt; v. Patow in den drei ersten. Hansemann, der dnrch
die Begründung der überaus segensreich wirkenden Discontocasse einen großen
Theil seiner Popularität wiedergewonnen hat, findet im zweitem Kreise viel An¬
klang; ans Pochhammcr richtet man im zweiten und dritten seine Aufmerksamkeit.
Dannenberger, der bei der letzten Berliner Wahl gewählt wurde und sich in der Kammer
der'Linken anschloß, bei der Pairiefrage aber von der Majorität der liberalen Partei
sich trennte, hat auch jetzt im zweiten Kreise günstige Aussichten. Außerdem
nennt man unter den liberalen Wahlmännern hier nud dort Ulsert, Riedel u. A.
Die definitive Feststellung der Kandidaten wird schwerlich vor dem Anfang der
nächsten Woche stattfinden, wenn die Stimmung der einzelnen Wahlkreise besser
bekannt ist; bis dahin tauchen auch vielleicht audere Namen ans. Die Gegner
werden wahrscheinlich die Minister aufstellen. Ob es möglich sein wird', Geppert
zu entrinnen, läßt sich noch uicht absehen.

Der Harkort'sche WahlkatechiSmns, der übrigens hier in Berlin nicht sehr
verbreitet zu sein scheint, ist deu Gegnern sehr verdrießlich gewesen; man hat durch
Verbreitung des Gerüchts von seiner Confiscation die Circulation der Schrift zu
hemmen gesucht. Doch kann nach preußischen Gesetzen hier weder eine Confiscation,
noch ein Verbot stattfinden; eine Confiscation deshalb nicht, weil die Schrift nicht
in den Buchhandel kommen sollte nud gekommen ist, und weil sie auch nirgends
an öffentlichen Orten ausgelegt wird; und die Befugniß des Ministers des Innern,


Grenzboten. IV. 18os.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/283>, abgerufen am 27.09.2024.