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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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dann in der Sprache, die trotz aller Rohheiten und Geschmacklosigkeiten, welche von
einem zu weit getriebenen Raffinement unzertrennlich sind, dennoch im Ganzen poetisch
ist, weil sie aus wirklichen Gedanken hervorgeht, während in der Regel, bei unseren
sogenannten genialen Dichtern der Schwulst nur die Trivialität überdeckt.' Der Dichter
erinnert am meisten 'an Büchner, in dessen nachgelassenen Schriften wir ein ganz ähn¬
liches, bedeutendes, aber auf das Häßliche und Unbegreifliche gerichtetes Talent entdecken,
oder auch an Hebbel, dessen Einfluß auf. das gegenwärtige Gedicht ein sehr bedeutender
und unhcilvollcr gewesen zu sein scheint. Die Charaktcranlagc der Heldin ist nämlich
eine Wiederaufnahme des Problems der Judith: eine gewaltsam zurückgedrängte und
durch die Unfähigkeit, einen würdigen Gegenstand zu finden, bis zum halben Wahnsinn
gesteigerte Leidenschaft, die sich' endlich zu dem Gedanken einer bestimmten That krystal-
lisirt und in dieser That sich ebenso befriedigt, als widerlegt. Dieser Gedanke ist aber
keineswegs vollkommen deutlich ausgedrückt, er ist vielmehr durch so viel Wunderlich¬
keiten, durch so viel unerklärbare und widerwärtige Einfälle versteckt, daß man zuweilen
an jungdeutsche Werke, z, B. an den Judas Ischarioth von Elise Schmidt erinnert
wird. Wenn wir es daher mit einer ausgeprägten Manier zu thun hätten, so würden
wir nicht anstehen, ein absolutes Verdammungsurtheil auszusprechen; aber wir finden
bei allen Uebertreibungen eine innere Kraft und eine seine Erregbarkeit der Seele heraus,
die uus an Jugend glauben läßt und uns zu der Hoffnung einer bedeutenderen Ent¬
wickelung berechtigt.

In einer andern Tragödie von Ludwig Wihl: Jeremias, die uns von Paris
aus zugeschickt ist, habe" wir den wunderlichen Versuch, die barbarische Vorzeit in einer
Sprache und Anschauung wiederzugeben, die dem gemeinen bürgerlichen Lustspiel angehört.
Wir haben eine ganze Reihe von Volksscenen, in denen sich Besenbindcr mit Schustern
unterhalten und ihren gesunden Menschenverstand an dem ägyptischen Göttersystem aus¬
üben, und wenn Nebukadnezar und Jeremias auftreten, so reden sie nicht viel anders,
als diese Besenbindcr und Schuster.

Eine Tragödie von Brachvogel: Adam, der Arzt von Granada, ist im
großen historischen Styl. Sie spielt einige Jahre nach der Einnahme von Granada
und stellt die verwirrten Familienverhältnisse des Königs Ferdinand dar, die durch eine
Reihe von Mißverständnissen zu den blutigsten Conflicten führen. In dem Arrangement
der Scenen ist einiges Geschick, aber schon in der Sprache herrscht eine unerträgliche,
weinerliche Sentimentalität ohne alle Physiognomie und ohne allen Zweck, und in den
Charakteren ist. kein Knochen und kein Mark. -- --

In Berlin hat Rudolf Cerf am 18. Juni die Königliche Concession zur Errich¬
tung eines neuen Theaters erhalten. Wir wollen hoffen, daß die neue Königstadt ihrer
sehr dankbaren Aufgabe mehr entsprechen Wird, als die alte es in ihrer letzten Zeit
gethan hat. --

Die deutsche Gesellschaft in London hat bei dem großen Erfolg, der ihr zu Theil
geworden ist, zu dem kühnen Unternehmen den Muth gehabt, Goethe's Faust den Eng¬
ländern vorzuführen. Diese Art von Theaterstück scheint den Engländern denn doch
etwas zu stark gewesen zu sein, und wennauch bei der Gelegenheit die Kritiker manche
Unverständigkeiten gesagt haben, so müssen wir doch im Allgemeinen ihrer Ansicht über
die Ausführbarkeit dieses Drama's beipflichten. Dargestellt kann nur werden, was
darstellbar ist, aber Faust und Mephistopheles sind keine wirklichen Charaktere, sondern
seltsame Mischungen aus Abstractionen und individuellem Leben, in denen bald das
Eine, bald das Andere hervortritt. Daß namentlich der Mephistopheles eine Lieblings¬
rolle unserer Charaktcrspielcr geworden ist, spricht nicht sehr für ihren dramatischen
Verstand. -- Einer dieser Vorstellungen hat die aus Amerika zurückgekehrte Jenny
Lind, jetzige Madam Goldschmidt, beigewohnt. --

Die öffentlichen Blätter berichten, daß Lota Montez am 22. Mai in New-York
zum ersten Mal in dem Drama, welches ihre eigene Lebensgeschichte und namentlich ihre


dann in der Sprache, die trotz aller Rohheiten und Geschmacklosigkeiten, welche von
einem zu weit getriebenen Raffinement unzertrennlich sind, dennoch im Ganzen poetisch
ist, weil sie aus wirklichen Gedanken hervorgeht, während in der Regel, bei unseren
sogenannten genialen Dichtern der Schwulst nur die Trivialität überdeckt.' Der Dichter
erinnert am meisten 'an Büchner, in dessen nachgelassenen Schriften wir ein ganz ähn¬
liches, bedeutendes, aber auf das Häßliche und Unbegreifliche gerichtetes Talent entdecken,
oder auch an Hebbel, dessen Einfluß auf. das gegenwärtige Gedicht ein sehr bedeutender
und unhcilvollcr gewesen zu sein scheint. Die Charaktcranlagc der Heldin ist nämlich
eine Wiederaufnahme des Problems der Judith: eine gewaltsam zurückgedrängte und
durch die Unfähigkeit, einen würdigen Gegenstand zu finden, bis zum halben Wahnsinn
gesteigerte Leidenschaft, die sich' endlich zu dem Gedanken einer bestimmten That krystal-
lisirt und in dieser That sich ebenso befriedigt, als widerlegt. Dieser Gedanke ist aber
keineswegs vollkommen deutlich ausgedrückt, er ist vielmehr durch so viel Wunderlich¬
keiten, durch so viel unerklärbare und widerwärtige Einfälle versteckt, daß man zuweilen
an jungdeutsche Werke, z, B. an den Judas Ischarioth von Elise Schmidt erinnert
wird. Wenn wir es daher mit einer ausgeprägten Manier zu thun hätten, so würden
wir nicht anstehen, ein absolutes Verdammungsurtheil auszusprechen; aber wir finden
bei allen Uebertreibungen eine innere Kraft und eine seine Erregbarkeit der Seele heraus,
die uus an Jugend glauben läßt und uns zu der Hoffnung einer bedeutenderen Ent¬
wickelung berechtigt.

In einer andern Tragödie von Ludwig Wihl: Jeremias, die uns von Paris
aus zugeschickt ist, habe» wir den wunderlichen Versuch, die barbarische Vorzeit in einer
Sprache und Anschauung wiederzugeben, die dem gemeinen bürgerlichen Lustspiel angehört.
Wir haben eine ganze Reihe von Volksscenen, in denen sich Besenbindcr mit Schustern
unterhalten und ihren gesunden Menschenverstand an dem ägyptischen Göttersystem aus¬
üben, und wenn Nebukadnezar und Jeremias auftreten, so reden sie nicht viel anders,
als diese Besenbindcr und Schuster.

Eine Tragödie von Brachvogel: Adam, der Arzt von Granada, ist im
großen historischen Styl. Sie spielt einige Jahre nach der Einnahme von Granada
und stellt die verwirrten Familienverhältnisse des Königs Ferdinand dar, die durch eine
Reihe von Mißverständnissen zu den blutigsten Conflicten führen. In dem Arrangement
der Scenen ist einiges Geschick, aber schon in der Sprache herrscht eine unerträgliche,
weinerliche Sentimentalität ohne alle Physiognomie und ohne allen Zweck, und in den
Charakteren ist. kein Knochen und kein Mark. — —

In Berlin hat Rudolf Cerf am 18. Juni die Königliche Concession zur Errich¬
tung eines neuen Theaters erhalten. Wir wollen hoffen, daß die neue Königstadt ihrer
sehr dankbaren Aufgabe mehr entsprechen Wird, als die alte es in ihrer letzten Zeit
gethan hat. —

Die deutsche Gesellschaft in London hat bei dem großen Erfolg, der ihr zu Theil
geworden ist, zu dem kühnen Unternehmen den Muth gehabt, Goethe's Faust den Eng¬
ländern vorzuführen. Diese Art von Theaterstück scheint den Engländern denn doch
etwas zu stark gewesen zu sein, und wennauch bei der Gelegenheit die Kritiker manche
Unverständigkeiten gesagt haben, so müssen wir doch im Allgemeinen ihrer Ansicht über
die Ausführbarkeit dieses Drama's beipflichten. Dargestellt kann nur werden, was
darstellbar ist, aber Faust und Mephistopheles sind keine wirklichen Charaktere, sondern
seltsame Mischungen aus Abstractionen und individuellem Leben, in denen bald das
Eine, bald das Andere hervortritt. Daß namentlich der Mephistopheles eine Lieblings¬
rolle unserer Charaktcrspielcr geworden ist, spricht nicht sehr für ihren dramatischen
Verstand. — Einer dieser Vorstellungen hat die aus Amerika zurückgekehrte Jenny
Lind, jetzige Madam Goldschmidt, beigewohnt. —

Die öffentlichen Blätter berichten, daß Lota Montez am 22. Mai in New-York
zum ersten Mal in dem Drama, welches ihre eigene Lebensgeschichte und namentlich ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/91>, abgerufen am 22.12.2024.