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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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über allgemeine Gesundheits-, Lebens- und Sterblichkeitsverhältnisse zusammen¬
gestellt."

Die bösen Zahlen -- und daß die Welt auch einen gar so großen Glauben
an ihre Beweiskraft hat! In England, Belgien, Frankreich haben viele nicht
officielle Beobachter des menschlichen Lebens und seiner Verhältnisse mit dieser
natur - staatswissenschaftlicher Statistik, besonders auch durch Vergleichung der
verschiedenen Sphären ihrer Beobachtungs-Kreise und -Richtungen, gar unange¬
nehme Ergebnisse über die praktischen Mißzustände des öffentlichen Lebens un-
widerleglich zu Tage gefördert. Deutsche derartige Beobachtungen sind dagegen
verhältnißmäßig höchst sparsam; und vielleicht selbst in den statistischen Bureaus
dürfte blos ein relativ brauchbarer Apparat für das nöthige Beobachtungsmaterial
vorhanden sein. Wozu auch das liebe Volk zu seinen anderen Lebensmühen noch mit
solchen "aufregenden" Beobachtungskasten beschweren? Viel besser, daß das "schätz¬
bare Material" der rückwärlsblickenden Propheten späterer Nachzeit in den Ar¬
chiven, wenn überhaupt aufbewahrt bleibe. Mrmm prem-Arr in lwaum -- sagt
schon Horaz, und wir sind seit seinem Tode um gerade 1900 Jahre -- vorsichtiger
geworden. Die erlauchte russische Praxis in der Statistik ist jedenfalls die einzig
sachgemäße. Sie giebt dem gierigen Schreibervolke in ihren öffentlichen Berichten
die wohlbemessenen statistischen Resultate aus den verschiedenen Branchen des
öffentlichen Lebens und corrigirt die factischen nach gonvernementaler Erwägung
der Umstände. Wo dagegen derartige väterliche Fürsorge nicht waltet, lassen
solche abscheuliche Zahlen am Ende gar glauben, die Schuld von den daraus
hervorgähnendeu Jammerzuständen trage keineswegs allein das Volk, sondern
eben so sehr die Unterlassungssünden von oben her. Ja, in kritischen Menschen
kann sogar leicht die Ueberzeugung entstehen, Ruhe und polizeiliche Wachsamkeit
genüge keineswegs allein, um die steuerpflichtigen Subjecte auf die ergiebigste
Weise nationalökonomisch zu benutzen, oder um dem Nebenzwecke der Politik,
Beförderung der geistigen und leiblichen Wohlfahrt Aller, mich nur annähernd
zu genügen.

Solche Folgerungen zieht nun freilich die vorliegende Hygieine nicht. Aber
nach Art der Wühler in Glacehandschuhen und der Nevolutionairs in Schlasröcken
läßt sie in jenem Schlußcapitel für ihre vorausgeschickten Ausführungen solche
statistische Thatsachen sprechen, ohne sie noch besonders zu commentiren. Die
vormärzliche Censur hätte davon nicht füglich etwas streichen können und sogar
der nachmärzlichen Preßgerechtigkeit dürste es schwer werden, eine etwaige gesuud-
heitspolizeiliche Confiscation des Buches zu bestätigen. Dagegen warnt Schreiber
dieses vor dessen Lectüre ängstlichst diejenigen Gemüther, welche durch die heutige prak¬
tische Politik die Wohlfahrt der Einzelnen und des Staates erreichbar glauben, indem
sie die socialen und politischen Zustände an int-ZKrum vor das berüchtigte "Jahr
der Tollheit" zu restituiren strebt. Wir haben es schon öfters von den Minister-


über allgemeine Gesundheits-, Lebens- und Sterblichkeitsverhältnisse zusammen¬
gestellt."

Die bösen Zahlen — und daß die Welt auch einen gar so großen Glauben
an ihre Beweiskraft hat! In England, Belgien, Frankreich haben viele nicht
officielle Beobachter des menschlichen Lebens und seiner Verhältnisse mit dieser
natur - staatswissenschaftlicher Statistik, besonders auch durch Vergleichung der
verschiedenen Sphären ihrer Beobachtungs-Kreise und -Richtungen, gar unange¬
nehme Ergebnisse über die praktischen Mißzustände des öffentlichen Lebens un-
widerleglich zu Tage gefördert. Deutsche derartige Beobachtungen sind dagegen
verhältnißmäßig höchst sparsam; und vielleicht selbst in den statistischen Bureaus
dürfte blos ein relativ brauchbarer Apparat für das nöthige Beobachtungsmaterial
vorhanden sein. Wozu auch das liebe Volk zu seinen anderen Lebensmühen noch mit
solchen „aufregenden" Beobachtungskasten beschweren? Viel besser, daß das „schätz¬
bare Material" der rückwärlsblickenden Propheten späterer Nachzeit in den Ar¬
chiven, wenn überhaupt aufbewahrt bleibe. Mrmm prem-Arr in lwaum — sagt
schon Horaz, und wir sind seit seinem Tode um gerade 1900 Jahre — vorsichtiger
geworden. Die erlauchte russische Praxis in der Statistik ist jedenfalls die einzig
sachgemäße. Sie giebt dem gierigen Schreibervolke in ihren öffentlichen Berichten
die wohlbemessenen statistischen Resultate aus den verschiedenen Branchen des
öffentlichen Lebens und corrigirt die factischen nach gonvernementaler Erwägung
der Umstände. Wo dagegen derartige väterliche Fürsorge nicht waltet, lassen
solche abscheuliche Zahlen am Ende gar glauben, die Schuld von den daraus
hervorgähnendeu Jammerzuständen trage keineswegs allein das Volk, sondern
eben so sehr die Unterlassungssünden von oben her. Ja, in kritischen Menschen
kann sogar leicht die Ueberzeugung entstehen, Ruhe und polizeiliche Wachsamkeit
genüge keineswegs allein, um die steuerpflichtigen Subjecte auf die ergiebigste
Weise nationalökonomisch zu benutzen, oder um dem Nebenzwecke der Politik,
Beförderung der geistigen und leiblichen Wohlfahrt Aller, mich nur annähernd
zu genügen.

Solche Folgerungen zieht nun freilich die vorliegende Hygieine nicht. Aber
nach Art der Wühler in Glacehandschuhen und der Nevolutionairs in Schlasröcken
läßt sie in jenem Schlußcapitel für ihre vorausgeschickten Ausführungen solche
statistische Thatsachen sprechen, ohne sie noch besonders zu commentiren. Die
vormärzliche Censur hätte davon nicht füglich etwas streichen können und sogar
der nachmärzlichen Preßgerechtigkeit dürste es schwer werden, eine etwaige gesuud-
heitspolizeiliche Confiscation des Buches zu bestätigen. Dagegen warnt Schreiber
dieses vor dessen Lectüre ängstlichst diejenigen Gemüther, welche durch die heutige prak¬
tische Politik die Wohlfahrt der Einzelnen und des Staates erreichbar glauben, indem
sie die socialen und politischen Zustände an int-ZKrum vor das berüchtigte „Jahr
der Tollheit" zu restituiren strebt. Wir haben es schon öfters von den Minister-


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[0508] über allgemeine Gesundheits-, Lebens- und Sterblichkeitsverhältnisse zusammen¬ gestellt." Die bösen Zahlen — und daß die Welt auch einen gar so großen Glauben an ihre Beweiskraft hat! In England, Belgien, Frankreich haben viele nicht officielle Beobachter des menschlichen Lebens und seiner Verhältnisse mit dieser natur - staatswissenschaftlicher Statistik, besonders auch durch Vergleichung der verschiedenen Sphären ihrer Beobachtungs-Kreise und -Richtungen, gar unange¬ nehme Ergebnisse über die praktischen Mißzustände des öffentlichen Lebens un- widerleglich zu Tage gefördert. Deutsche derartige Beobachtungen sind dagegen verhältnißmäßig höchst sparsam; und vielleicht selbst in den statistischen Bureaus dürfte blos ein relativ brauchbarer Apparat für das nöthige Beobachtungsmaterial vorhanden sein. Wozu auch das liebe Volk zu seinen anderen Lebensmühen noch mit solchen „aufregenden" Beobachtungskasten beschweren? Viel besser, daß das „schätz¬ bare Material" der rückwärlsblickenden Propheten späterer Nachzeit in den Ar¬ chiven, wenn überhaupt aufbewahrt bleibe. Mrmm prem-Arr in lwaum — sagt schon Horaz, und wir sind seit seinem Tode um gerade 1900 Jahre — vorsichtiger geworden. Die erlauchte russische Praxis in der Statistik ist jedenfalls die einzig sachgemäße. Sie giebt dem gierigen Schreibervolke in ihren öffentlichen Berichten die wohlbemessenen statistischen Resultate aus den verschiedenen Branchen des öffentlichen Lebens und corrigirt die factischen nach gonvernementaler Erwägung der Umstände. Wo dagegen derartige väterliche Fürsorge nicht waltet, lassen solche abscheuliche Zahlen am Ende gar glauben, die Schuld von den daraus hervorgähnendeu Jammerzuständen trage keineswegs allein das Volk, sondern eben so sehr die Unterlassungssünden von oben her. Ja, in kritischen Menschen kann sogar leicht die Ueberzeugung entstehen, Ruhe und polizeiliche Wachsamkeit genüge keineswegs allein, um die steuerpflichtigen Subjecte auf die ergiebigste Weise nationalökonomisch zu benutzen, oder um dem Nebenzwecke der Politik, Beförderung der geistigen und leiblichen Wohlfahrt Aller, mich nur annähernd zu genügen. Solche Folgerungen zieht nun freilich die vorliegende Hygieine nicht. Aber nach Art der Wühler in Glacehandschuhen und der Nevolutionairs in Schlasröcken läßt sie in jenem Schlußcapitel für ihre vorausgeschickten Ausführungen solche statistische Thatsachen sprechen, ohne sie noch besonders zu commentiren. Die vormärzliche Censur hätte davon nicht füglich etwas streichen können und sogar der nachmärzlichen Preßgerechtigkeit dürste es schwer werden, eine etwaige gesuud- heitspolizeiliche Confiscation des Buches zu bestätigen. Dagegen warnt Schreiber dieses vor dessen Lectüre ängstlichst diejenigen Gemüther, welche durch die heutige prak¬ tische Politik die Wohlfahrt der Einzelnen und des Staates erreichbar glauben, indem sie die socialen und politischen Zustände an int-ZKrum vor das berüchtigte „Jahr der Tollheit" zu restituiren strebt. Wir haben es schon öfters von den Minister-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/508>, abgerufen am 03.01.2025.