Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Sprache verliert ihre historische Färbung. Manche Mißgriffe der entgegen¬
gesetzten Art, z. B. die Neigung, dem Anekdotischen einen zu großen Spielraum
zu geben, sind aus derselben Sucht zu erklären. Die Idee z. B>, ein Paar
Hosen zum Mittelpunkt eines ernsthaften historischen Romans zu machen, immer
wieder daraus zurückzukommen und sie zuletzt sogar zum Symbol einer höhern
Idee zu verwerthen, ist nichts weiter als jene Paradoxienjägerei, die auf das
Absurdeste verfällt, um sich vom Gewöhnlichen zu unterscheiden.

Unmittelbar hinter W. Alexis ist Carl Spindler zu nennen. Seine
Naturkraft ist größer, an Bildung und Technik steht er aber unendlich zurück.
Von ihm gilt, was wir vorher andeuteten: er glaubt vollständig allen Anforde¬
rungen, die man an einen historischen Roman machen kann, zu genügen, wenn er
ein Stück Leben aus der Vergangenheit herausgreift und es möglichst treu por-
traitirt. In diesem Protraitiren ist er ohne Gleichen; auch selbst seine humoristischen
Erfindungen (z. B. sein humoristischer Roman : "Meister Kleiderleib," der in Beziehung
auf die vis conical, bei weitem den Jean Paul'schen Romanen in ähnlichem Genre
vorzuziehen und der noch gar nicht nach Gebühr gewürdigt ist) sind kühne Studien
nach der Natur. Vom Idealen hat er keinen Begriff. Alles ist bei ihm Stoff.
In seinen ersten Romanen, dem "Bastard", dem "Juden" u. s. w., ist trotz der
rohen Erfindungen wenigstens die Rücksichtslosigkeit seiner Erzählung so groß,
daß wir mit fortgerissen werden, und uns für den Augenblick durch die Häßlichkeit
und Verzerrung seiner Gestalten nicht stören lassen; später aber, z. B. in der
"Nonne von Gnadenzell" und in den kleinen historischen Novellen überwuchert
das Material auch die Kraft der Erzählung. Wir haben bei Spindler nie das
Gefühl der Ruhe und Behaglichkeit, das doch für das epische Gebiet nothwendig
ist. Ueber der Masse von Einzelheiten geht der Gesammteindruck verloren.
Eine unübersehbare Fülle von Personen drängt sich durch einander auf einem viel
zu engen Raum, der keine Ordnung und Gruppirung verstattet; in fieberhafter
Eile treten sie auf und gehen wieder ab, ehe man noch für sie irgend hätte warm
werden können. Von Uebersicht und Perspective ist gar keine Rede. Es ist sehr
schade um dieses große Talent; wenn er sich nicht in leichtsinnniger Productivität
erschöpft hätte, wäre er vielleicht für die vaterländische Literatur von Bedeutung
geworden.

Etwas Aehnliches gilt von Zschocke. Auch er hat in der Schilderung
von Personen und Situationen ein nicht gemeines Talent, und das patriotische
Gefühl des Schweizers wirkt wohlthuend; aber wir vermissen zu sehr die Bildung,
die sich in der humoristischen Freiheit des Dichters von seinen Gegenständen zeigen
muß, und jene Kühnheit der Phantasie, die durch starke, entschiedene Striche
ihrem Gegenstand gerecht wird. Er stellt uus mitunter sehr aufregende Gegen¬
stände dar, aber sie machen nicht die gehörige Wirkung, weil er mit zu kleinen,
ängstlichen Strichen malt.


die Sprache verliert ihre historische Färbung. Manche Mißgriffe der entgegen¬
gesetzten Art, z. B. die Neigung, dem Anekdotischen einen zu großen Spielraum
zu geben, sind aus derselben Sucht zu erklären. Die Idee z. B>, ein Paar
Hosen zum Mittelpunkt eines ernsthaften historischen Romans zu machen, immer
wieder daraus zurückzukommen und sie zuletzt sogar zum Symbol einer höhern
Idee zu verwerthen, ist nichts weiter als jene Paradoxienjägerei, die auf das
Absurdeste verfällt, um sich vom Gewöhnlichen zu unterscheiden.

Unmittelbar hinter W. Alexis ist Carl Spindler zu nennen. Seine
Naturkraft ist größer, an Bildung und Technik steht er aber unendlich zurück.
Von ihm gilt, was wir vorher andeuteten: er glaubt vollständig allen Anforde¬
rungen, die man an einen historischen Roman machen kann, zu genügen, wenn er
ein Stück Leben aus der Vergangenheit herausgreift und es möglichst treu por-
traitirt. In diesem Protraitiren ist er ohne Gleichen; auch selbst seine humoristischen
Erfindungen (z. B. sein humoristischer Roman : „Meister Kleiderleib," der in Beziehung
auf die vis conical, bei weitem den Jean Paul'schen Romanen in ähnlichem Genre
vorzuziehen und der noch gar nicht nach Gebühr gewürdigt ist) sind kühne Studien
nach der Natur. Vom Idealen hat er keinen Begriff. Alles ist bei ihm Stoff.
In seinen ersten Romanen, dem „Bastard", dem „Juden" u. s. w., ist trotz der
rohen Erfindungen wenigstens die Rücksichtslosigkeit seiner Erzählung so groß,
daß wir mit fortgerissen werden, und uns für den Augenblick durch die Häßlichkeit
und Verzerrung seiner Gestalten nicht stören lassen; später aber, z. B. in der
„Nonne von Gnadenzell" und in den kleinen historischen Novellen überwuchert
das Material auch die Kraft der Erzählung. Wir haben bei Spindler nie das
Gefühl der Ruhe und Behaglichkeit, das doch für das epische Gebiet nothwendig
ist. Ueber der Masse von Einzelheiten geht der Gesammteindruck verloren.
Eine unübersehbare Fülle von Personen drängt sich durch einander auf einem viel
zu engen Raum, der keine Ordnung und Gruppirung verstattet; in fieberhafter
Eile treten sie auf und gehen wieder ab, ehe man noch für sie irgend hätte warm
werden können. Von Uebersicht und Perspective ist gar keine Rede. Es ist sehr
schade um dieses große Talent; wenn er sich nicht in leichtsinnniger Productivität
erschöpft hätte, wäre er vielleicht für die vaterländische Literatur von Bedeutung
geworden.

Etwas Aehnliches gilt von Zschocke. Auch er hat in der Schilderung
von Personen und Situationen ein nicht gemeines Talent, und das patriotische
Gefühl des Schweizers wirkt wohlthuend; aber wir vermissen zu sehr die Bildung,
die sich in der humoristischen Freiheit des Dichters von seinen Gegenständen zeigen
muß, und jene Kühnheit der Phantasie, die durch starke, entschiedene Striche
ihrem Gegenstand gerecht wird. Er stellt uus mitunter sehr aufregende Gegen¬
stände dar, aber sie machen nicht die gehörige Wirkung, weil er mit zu kleinen,
ängstlichen Strichen malt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94941"/>
          <p xml:id="ID_1472" prev="#ID_1471"> die Sprache verliert ihre historische Färbung. Manche Mißgriffe der entgegen¬<lb/>
gesetzten Art, z. B. die Neigung, dem Anekdotischen einen zu großen Spielraum<lb/>
zu geben, sind aus derselben Sucht zu erklären. Die Idee z. B&gt;, ein Paar<lb/>
Hosen zum Mittelpunkt eines ernsthaften historischen Romans zu machen, immer<lb/>
wieder daraus zurückzukommen und sie zuletzt sogar zum Symbol einer höhern<lb/>
Idee zu verwerthen, ist nichts weiter als jene Paradoxienjägerei, die auf das<lb/>
Absurdeste verfällt, um sich vom Gewöhnlichen zu unterscheiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1473"> Unmittelbar hinter W. Alexis ist Carl Spindler zu nennen. Seine<lb/>
Naturkraft ist größer, an Bildung und Technik steht er aber unendlich zurück.<lb/>
Von ihm gilt, was wir vorher andeuteten: er glaubt vollständig allen Anforde¬<lb/>
rungen, die man an einen historischen Roman machen kann, zu genügen, wenn er<lb/>
ein Stück Leben aus der Vergangenheit herausgreift und es möglichst treu por-<lb/>
traitirt. In diesem Protraitiren ist er ohne Gleichen; auch selbst seine humoristischen<lb/>
Erfindungen (z. B. sein humoristischer Roman : &#x201E;Meister Kleiderleib," der in Beziehung<lb/>
auf die vis conical, bei weitem den Jean Paul'schen Romanen in ähnlichem Genre<lb/>
vorzuziehen und der noch gar nicht nach Gebühr gewürdigt ist) sind kühne Studien<lb/>
nach der Natur. Vom Idealen hat er keinen Begriff. Alles ist bei ihm Stoff.<lb/>
In seinen ersten Romanen, dem &#x201E;Bastard", dem &#x201E;Juden" u. s. w., ist trotz der<lb/>
rohen Erfindungen wenigstens die Rücksichtslosigkeit seiner Erzählung so groß,<lb/>
daß wir mit fortgerissen werden, und uns für den Augenblick durch die Häßlichkeit<lb/>
und Verzerrung seiner Gestalten nicht stören lassen; später aber, z. B. in der<lb/>
&#x201E;Nonne von Gnadenzell" und in den kleinen historischen Novellen überwuchert<lb/>
das Material auch die Kraft der Erzählung. Wir haben bei Spindler nie das<lb/>
Gefühl der Ruhe und Behaglichkeit, das doch für das epische Gebiet nothwendig<lb/>
ist. Ueber der Masse von Einzelheiten geht der Gesammteindruck verloren.<lb/>
Eine unübersehbare Fülle von Personen drängt sich durch einander auf einem viel<lb/>
zu engen Raum, der keine Ordnung und Gruppirung verstattet; in fieberhafter<lb/>
Eile treten sie auf und gehen wieder ab, ehe man noch für sie irgend hätte warm<lb/>
werden können. Von Uebersicht und Perspective ist gar keine Rede. Es ist sehr<lb/>
schade um dieses große Talent; wenn er sich nicht in leichtsinnniger Productivität<lb/>
erschöpft hätte, wäre er vielleicht für die vaterländische Literatur von Bedeutung<lb/>
geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1474"> Etwas Aehnliches gilt von Zschocke. Auch er hat in der Schilderung<lb/>
von Personen und Situationen ein nicht gemeines Talent, und das patriotische<lb/>
Gefühl des Schweizers wirkt wohlthuend; aber wir vermissen zu sehr die Bildung,<lb/>
die sich in der humoristischen Freiheit des Dichters von seinen Gegenständen zeigen<lb/>
muß, und jene Kühnheit der Phantasie, die durch starke, entschiedene Striche<lb/>
ihrem Gegenstand gerecht wird. Er stellt uus mitunter sehr aufregende Gegen¬<lb/>
stände dar, aber sie machen nicht die gehörige Wirkung, weil er mit zu kleinen,<lb/>
ängstlichen Strichen malt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] die Sprache verliert ihre historische Färbung. Manche Mißgriffe der entgegen¬ gesetzten Art, z. B. die Neigung, dem Anekdotischen einen zu großen Spielraum zu geben, sind aus derselben Sucht zu erklären. Die Idee z. B>, ein Paar Hosen zum Mittelpunkt eines ernsthaften historischen Romans zu machen, immer wieder daraus zurückzukommen und sie zuletzt sogar zum Symbol einer höhern Idee zu verwerthen, ist nichts weiter als jene Paradoxienjägerei, die auf das Absurdeste verfällt, um sich vom Gewöhnlichen zu unterscheiden. Unmittelbar hinter W. Alexis ist Carl Spindler zu nennen. Seine Naturkraft ist größer, an Bildung und Technik steht er aber unendlich zurück. Von ihm gilt, was wir vorher andeuteten: er glaubt vollständig allen Anforde¬ rungen, die man an einen historischen Roman machen kann, zu genügen, wenn er ein Stück Leben aus der Vergangenheit herausgreift und es möglichst treu por- traitirt. In diesem Protraitiren ist er ohne Gleichen; auch selbst seine humoristischen Erfindungen (z. B. sein humoristischer Roman : „Meister Kleiderleib," der in Beziehung auf die vis conical, bei weitem den Jean Paul'schen Romanen in ähnlichem Genre vorzuziehen und der noch gar nicht nach Gebühr gewürdigt ist) sind kühne Studien nach der Natur. Vom Idealen hat er keinen Begriff. Alles ist bei ihm Stoff. In seinen ersten Romanen, dem „Bastard", dem „Juden" u. s. w., ist trotz der rohen Erfindungen wenigstens die Rücksichtslosigkeit seiner Erzählung so groß, daß wir mit fortgerissen werden, und uns für den Augenblick durch die Häßlichkeit und Verzerrung seiner Gestalten nicht stören lassen; später aber, z. B. in der „Nonne von Gnadenzell" und in den kleinen historischen Novellen überwuchert das Material auch die Kraft der Erzählung. Wir haben bei Spindler nie das Gefühl der Ruhe und Behaglichkeit, das doch für das epische Gebiet nothwendig ist. Ueber der Masse von Einzelheiten geht der Gesammteindruck verloren. Eine unübersehbare Fülle von Personen drängt sich durch einander auf einem viel zu engen Raum, der keine Ordnung und Gruppirung verstattet; in fieberhafter Eile treten sie auf und gehen wieder ab, ehe man noch für sie irgend hätte warm werden können. Von Uebersicht und Perspective ist gar keine Rede. Es ist sehr schade um dieses große Talent; wenn er sich nicht in leichtsinnniger Productivität erschöpft hätte, wäre er vielleicht für die vaterländische Literatur von Bedeutung geworden. Etwas Aehnliches gilt von Zschocke. Auch er hat in der Schilderung von Personen und Situationen ein nicht gemeines Talent, und das patriotische Gefühl des Schweizers wirkt wohlthuend; aber wir vermissen zu sehr die Bildung, die sich in der humoristischen Freiheit des Dichters von seinen Gegenständen zeigen muß, und jene Kühnheit der Phantasie, die durch starke, entschiedene Striche ihrem Gegenstand gerecht wird. Er stellt uus mitunter sehr aufregende Gegen¬ stände dar, aber sie machen nicht die gehörige Wirkung, weil er mit zu kleinen, ängstlichen Strichen malt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/500>, abgerufen am 22.12.2024.