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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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und sie bietet, wenn nicht einen localen, doch wenigstens einen geistigen Mittel¬
punkt, durch den man jenen Halt und jene Ruhe gewinnt, die den künstlerischen
Genuß bedingen. In der spätern Zeit waren es eigentlich nur die allgemeinen
Kriege, die der Nation in Erinnerung brachten, daß sie eine Totalität sei, und
die das individuelle Leben mit dem allgemeinen vermittelten. Ans dem dreißig¬
jährigen Kriege, dem französischen Raubkriege, dem siebenjährigen und dem Be¬
freiungskriege schlummert noch eine Fülle vou Erinnerungen im Volke, die durch
ein lebendiges Gemälde wieder erweckt und idealisirt werden können.

Was also den Stoff betrifft, so würde sich sür Deutschland noch immer eine
hinreichende Gelegenheit für historische Romane bieten. Unsre Dichter versehen
es aber in der Regel in der Form; sie verstehen das Gesetz der Perspective nicht.
Der Dichter hat die doppelte Aufgabe, das Gemälde seines Zeitalters so zu ent¬
werfen, daß wir die Kluft, die uns von demselben trennt, lebhaft empfinden, und
uns doch zugleich den Weg zu densum, der uns das Verständniß desselben er¬
öffnet. Die Gegenwart muß ihren Schein in die Vergangenheit werfen, daß
uns die Vergangenheit wie dje Gegenwart erscheint; nicht so, als ob wir uns
mit unsren gegenwärtigen Empftndungeu und Reflexionen darin wiederfinden,
sondern daß wir den innern Zusammenhang der uns augenblicklich fremden An¬
schauungsweise mit unsrer gegenwärtigen begreisen. Das würde etwa sein, was
man beim historischen Roman idealisiren nennt. Geht der Dichter blos darauf
aus, uns eine Chronik im Geist und Styl der Vergangenheit' zu geben und so
getreu als möglich das zu-copiren, was damals Natur war, so können wir kein
lebendiges Interesse daran nehmen, und ob es deutsche oder neuseeländische Zu¬
stände sind, die uns aus diese Weise vorgeführt werden, kann uns vollkommen
gleichgiltig sein. -- Daß nus ferner die Geschichte als solche fesseln muß, auch
ganz abgesehen von den auteur - historischen Schilderungen, die sie uus giebt, ver¬
steht sich so von selbst, daß man gar nicht daran erinnern dürfte, wenn nicht in
der That mehrfach dagegen gesündigt wäre.

Der historische Roman begann bei uus erst in der Mitte und gegen das
Ende der 20er Jahre, vorzugsweise durch das Vorbild W. Scott's angeregt.
Die Dvctrinairs der romantischen Schule hatten auch in dieser Beziehung nicht viel
gefördert; sie hatten zwar vielfach ans die Nothwendigkeit hingewiesen, unsre große
Vergangenheit festzuhalten, aber die Art und Weise, wie sie Geschichte und Mythus
in Eins bilden wollten, war so überschwänglich, daß sie in der Tendenz bleiben
und daß jede wirkliche Ausführung ihrer Ideen ihnen schal und prosaisch vor¬
kommen mußte. Daraus ist auch die Geringschätzung zu erklären, mit der sich
z. B. Tieck über W. Scott ausspricht. Es kam auch ihren nächsten Schülern
mehr darauf an, die Paradoxien ihrer Empfindungen und ihres Denkens an den
Mann zu bringen, als sich an bestimmte Gegenstände zu halten, und so blieb der
historische Roman meistens den Fabrikarbeitern überlassen. Noch immer ist man


und sie bietet, wenn nicht einen localen, doch wenigstens einen geistigen Mittel¬
punkt, durch den man jenen Halt und jene Ruhe gewinnt, die den künstlerischen
Genuß bedingen. In der spätern Zeit waren es eigentlich nur die allgemeinen
Kriege, die der Nation in Erinnerung brachten, daß sie eine Totalität sei, und
die das individuelle Leben mit dem allgemeinen vermittelten. Ans dem dreißig¬
jährigen Kriege, dem französischen Raubkriege, dem siebenjährigen und dem Be¬
freiungskriege schlummert noch eine Fülle vou Erinnerungen im Volke, die durch
ein lebendiges Gemälde wieder erweckt und idealisirt werden können.

Was also den Stoff betrifft, so würde sich sür Deutschland noch immer eine
hinreichende Gelegenheit für historische Romane bieten. Unsre Dichter versehen
es aber in der Regel in der Form; sie verstehen das Gesetz der Perspective nicht.
Der Dichter hat die doppelte Aufgabe, das Gemälde seines Zeitalters so zu ent¬
werfen, daß wir die Kluft, die uns von demselben trennt, lebhaft empfinden, und
uns doch zugleich den Weg zu densum, der uns das Verständniß desselben er¬
öffnet. Die Gegenwart muß ihren Schein in die Vergangenheit werfen, daß
uns die Vergangenheit wie dje Gegenwart erscheint; nicht so, als ob wir uns
mit unsren gegenwärtigen Empftndungeu und Reflexionen darin wiederfinden,
sondern daß wir den innern Zusammenhang der uns augenblicklich fremden An¬
schauungsweise mit unsrer gegenwärtigen begreisen. Das würde etwa sein, was
man beim historischen Roman idealisiren nennt. Geht der Dichter blos darauf
aus, uns eine Chronik im Geist und Styl der Vergangenheit' zu geben und so
getreu als möglich das zu-copiren, was damals Natur war, so können wir kein
lebendiges Interesse daran nehmen, und ob es deutsche oder neuseeländische Zu¬
stände sind, die uns aus diese Weise vorgeführt werden, kann uns vollkommen
gleichgiltig sein. — Daß nus ferner die Geschichte als solche fesseln muß, auch
ganz abgesehen von den auteur - historischen Schilderungen, die sie uus giebt, ver¬
steht sich so von selbst, daß man gar nicht daran erinnern dürfte, wenn nicht in
der That mehrfach dagegen gesündigt wäre.

Der historische Roman begann bei uus erst in der Mitte und gegen das
Ende der 20er Jahre, vorzugsweise durch das Vorbild W. Scott's angeregt.
Die Dvctrinairs der romantischen Schule hatten auch in dieser Beziehung nicht viel
gefördert; sie hatten zwar vielfach ans die Nothwendigkeit hingewiesen, unsre große
Vergangenheit festzuhalten, aber die Art und Weise, wie sie Geschichte und Mythus
in Eins bilden wollten, war so überschwänglich, daß sie in der Tendenz bleiben
und daß jede wirkliche Ausführung ihrer Ideen ihnen schal und prosaisch vor¬
kommen mußte. Daraus ist auch die Geringschätzung zu erklären, mit der sich
z. B. Tieck über W. Scott ausspricht. Es kam auch ihren nächsten Schülern
mehr darauf an, die Paradoxien ihrer Empfindungen und ihres Denkens an den
Mann zu bringen, als sich an bestimmte Gegenstände zu halten, und so blieb der
historische Roman meistens den Fabrikarbeitern überlassen. Noch immer ist man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/498>, abgerufen am 22.12.2024.