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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Der vaterländische Roman.

Die Frage, die man zuweilen aufgeworfen hat, ob der historische Roman
überhaupt eine Berechtigung im Gebiet der Poesie habe, ist im Grunde eine
luüszige. Daß er zu einer niedrigern Kunstgattung gehört, als diejenigen Zweige
der Poesie, die ein freies Schaffen erlauben und fordern, dürfte wol kaum in
Zweifel gestellt werden, eben so wenig, daß es immer ein mißliches Unternehmen
bleibt, die Phantasie in Geschichten-einzuführen, die eigentlich der Gelehrsamkeit
anheimfallen. Aus der andern Seite ist es aber wieder nicht zu läugnen, daß für
das Festhalten einer großen Vergangenheit die Geschichtschreibung nicht vollständig
ausreicht. Sobald sie versucht, eine Totalanschanung von dem Zeitalter zu geben,
unt dem sie sich beschäftigt, eine Anschauung, die sich auf alle Kreise des- öffent¬
lichen und Privatlebens gleichmäßig erstreckt, wird sie in Gefahr kommen, von ihrem
eigentlichen Zweck abzuweichen; jedenfalls kann sie Culturzustände nur in allgemeinen
Uebersichten, nicht in der Form einer lebendigen Erzählung geben. Hier bleibt
dem historischen Roman ein angemessener Spielraum. Er ist im Staude,
auf frühere Forschungen gestützt, uns die Sitten des vergangenen Zeitalters nach
allen Richtungen hin neu zu erschaffen, und daß daraus Werke hervorgehen können,
die auf Phantasie und Gemüth wenigstens annäherungsweise denselben Eindruck
hervorbringen, deu eine freie Schöpfung macht, hat gleich das Beispiel des
Erfinders dieser Kuustgattnug auf eine glänzende Weise dargethan.

Allerdings ist Walter Scott anch ziemlich allein geblieben. Von der unend¬
lichen Zahl historischer Romane, die bei allen Völkern sein Vorbild hervorgerufen
hat, ist kein einziger, der seinen besseren Werken an die Seite zu stellen wäre;
la selbst diejenigen, die nur mäßige Ansprüche befriedigen, würden sich zählen
lassen; und zwar gilt das von den Versuchen der Engländer nicht minder, als von
denen der Deutschen, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn u. s. w.

Für die Deutschen müßte die Aufgabe eigentlich noch viel lockender sein, als
sür irgend ein anderes Volk; denn wir haben zwar im Allgemeinen ein ziemlich
lebhaftes Nationalbewußtsein, aber es fehlt uns die Bestimmtheit, auf die wir


Grenzboten. III. -I8SI. <Z1
Der vaterländische Roman.

Die Frage, die man zuweilen aufgeworfen hat, ob der historische Roman
überhaupt eine Berechtigung im Gebiet der Poesie habe, ist im Grunde eine
luüszige. Daß er zu einer niedrigern Kunstgattung gehört, als diejenigen Zweige
der Poesie, die ein freies Schaffen erlauben und fordern, dürfte wol kaum in
Zweifel gestellt werden, eben so wenig, daß es immer ein mißliches Unternehmen
bleibt, die Phantasie in Geschichten-einzuführen, die eigentlich der Gelehrsamkeit
anheimfallen. Aus der andern Seite ist es aber wieder nicht zu läugnen, daß für
das Festhalten einer großen Vergangenheit die Geschichtschreibung nicht vollständig
ausreicht. Sobald sie versucht, eine Totalanschanung von dem Zeitalter zu geben,
unt dem sie sich beschäftigt, eine Anschauung, die sich auf alle Kreise des- öffent¬
lichen und Privatlebens gleichmäßig erstreckt, wird sie in Gefahr kommen, von ihrem
eigentlichen Zweck abzuweichen; jedenfalls kann sie Culturzustände nur in allgemeinen
Uebersichten, nicht in der Form einer lebendigen Erzählung geben. Hier bleibt
dem historischen Roman ein angemessener Spielraum. Er ist im Staude,
auf frühere Forschungen gestützt, uns die Sitten des vergangenen Zeitalters nach
allen Richtungen hin neu zu erschaffen, und daß daraus Werke hervorgehen können,
die auf Phantasie und Gemüth wenigstens annäherungsweise denselben Eindruck
hervorbringen, deu eine freie Schöpfung macht, hat gleich das Beispiel des
Erfinders dieser Kuustgattnug auf eine glänzende Weise dargethan.

Allerdings ist Walter Scott anch ziemlich allein geblieben. Von der unend¬
lichen Zahl historischer Romane, die bei allen Völkern sein Vorbild hervorgerufen
hat, ist kein einziger, der seinen besseren Werken an die Seite zu stellen wäre;
la selbst diejenigen, die nur mäßige Ansprüche befriedigen, würden sich zählen
lassen; und zwar gilt das von den Versuchen der Engländer nicht minder, als von
denen der Deutschen, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn u. s. w.

Für die Deutschen müßte die Aufgabe eigentlich noch viel lockender sein, als
sür irgend ein anderes Volk; denn wir haben zwar im Allgemeinen ein ziemlich
lebhaftes Nationalbewußtsein, aber es fehlt uns die Bestimmtheit, auf die wir


Grenzboten. III. -I8SI. <Z1
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[0493] Der vaterländische Roman. Die Frage, die man zuweilen aufgeworfen hat, ob der historische Roman überhaupt eine Berechtigung im Gebiet der Poesie habe, ist im Grunde eine luüszige. Daß er zu einer niedrigern Kunstgattung gehört, als diejenigen Zweige der Poesie, die ein freies Schaffen erlauben und fordern, dürfte wol kaum in Zweifel gestellt werden, eben so wenig, daß es immer ein mißliches Unternehmen bleibt, die Phantasie in Geschichten-einzuführen, die eigentlich der Gelehrsamkeit anheimfallen. Aus der andern Seite ist es aber wieder nicht zu läugnen, daß für das Festhalten einer großen Vergangenheit die Geschichtschreibung nicht vollständig ausreicht. Sobald sie versucht, eine Totalanschanung von dem Zeitalter zu geben, unt dem sie sich beschäftigt, eine Anschauung, die sich auf alle Kreise des- öffent¬ lichen und Privatlebens gleichmäßig erstreckt, wird sie in Gefahr kommen, von ihrem eigentlichen Zweck abzuweichen; jedenfalls kann sie Culturzustände nur in allgemeinen Uebersichten, nicht in der Form einer lebendigen Erzählung geben. Hier bleibt dem historischen Roman ein angemessener Spielraum. Er ist im Staude, auf frühere Forschungen gestützt, uns die Sitten des vergangenen Zeitalters nach allen Richtungen hin neu zu erschaffen, und daß daraus Werke hervorgehen können, die auf Phantasie und Gemüth wenigstens annäherungsweise denselben Eindruck hervorbringen, deu eine freie Schöpfung macht, hat gleich das Beispiel des Erfinders dieser Kuustgattnug auf eine glänzende Weise dargethan. Allerdings ist Walter Scott anch ziemlich allein geblieben. Von der unend¬ lichen Zahl historischer Romane, die bei allen Völkern sein Vorbild hervorgerufen hat, ist kein einziger, der seinen besseren Werken an die Seite zu stellen wäre; la selbst diejenigen, die nur mäßige Ansprüche befriedigen, würden sich zählen lassen; und zwar gilt das von den Versuchen der Engländer nicht minder, als von denen der Deutschen, Franzosen, Italiener, Polen, Russen, Ungarn u. s. w. Für die Deutschen müßte die Aufgabe eigentlich noch viel lockender sein, als sür irgend ein anderes Volk; denn wir haben zwar im Allgemeinen ein ziemlich lebhaftes Nationalbewußtsein, aber es fehlt uns die Bestimmtheit, auf die wir Grenzboten. III. -I8SI. <Z1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/493>, abgerufen am 22.12.2024.