Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.Wir gehen auf den Roman von Wilibald Alexis über: Ruhe ist die erste .60*
Wir gehen auf den Roman von Wilibald Alexis über: Ruhe ist die erste .60*
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Wir gehen auf den Roman von Wilibald Alexis über: Ruhe ist die erste
Bürgerpflicht (Berlin, S Bde. Barthold). — Was uns bei diesem Roman zunächst
wohlthätig berührt, ist der lebendige patriotische Geist, in dem er geschrieben ist. Wir
Meinen damit nicht jene lyrischen Ausrufungen der Vaterlandsliebe, die nicht sehr schwer
in's Gewicht fallen, weil man auch mit ihnen coquettiren kann, sondern die Fähigkeit,
den Patriotismus in bestimmten, concreten Gestalten darzustellen. W. Alexis hat das
preußische Wesen sehr stark und warm empfunden, und er weiß uns zu bewegen und zu
rühren, obgleich er keinen Anstand nimmt, die Schattenseiten eben jenes Wesens sehr
stark und grell hervorzuheben. Außerdem ist die satyrische Schilderung der Männer,
die damals Preußens Schande verschuldeten, der Haugwitz, Schulenburg, Lombard,
Bovillard ze. so scharf und schneidend, daß man sie nur aus lebendigem Haß erklären
kann, und dieser Haß thut wohl, namentlich in unsrer Zeit. Daß trotzdem noch manche
Rücksichten obwalten, innerliche oder äußerliche, die diesem Haß eine Grenze stecken, —
wer wollte sagen, ob man sich darüber mehr freuen oder betrüben soll? Von dieser
Seite ist der Roman, wenn wir davon absehen, daß eine so nahe liegende Zeit, wenn
Man sie in ihrer Vollständigkeit schildern will, die künstlerische Vollendung unmöglich
Macht, beinahe musterhaft zu nennen. W. Alexis hat mit großem Verstand die Typen,
ni denen die verschiedenen Seiten des preußischen Wesens ihren Ausdruck finden, in
verhältnißmäßig kleiner Zahl zusammengestellt und mit großem Geschick grnp-
Pirt.— Allein diese historischen Bilder bilden nur den Hintergrund; das eigentlich ro¬
mantische Interesse knüpft sich an die psychologische Schilderung der bekannten Gift-
mischerin Ursinus, der noch ein anderer Giftmischer, ein Herr v. Wandel, beigesellt ist,
vielleicht auch eine Reminiscenz aus den Criminalacten. W. Alexis hat die vielen Jahre
hindurch, daß er den neuen Pitaval herausgiebt (die Geschichte der Ursinus steht im
2. Bd.), sich so in das psychologische Raffinement der Vcrbrechergcschichten vertieft, daß
er es in seinen Erzählungen nicht mehr recht loswerden kann. Er versucht sein Interesse
"u Verlauf des Romans selber zu rechtfertigen. Ein Negicrmigsrath v. Fuchsins tritt
aus der Verwaltung in die Criminaljustiz zurück. „Ich lebe, sagt er, jetzt für die Ver¬
brecherwelt. Die Wahrheit, die ich in der Psychologie des Staats nicht sand, suche ich
>n der der Gefängnisse. Es ist eigentlich derselbe Stempel, nur ursprünglicher, frischer.
Das Schiller'sehe Weltgericht finde ich hier viel conciser, concreter..... Dort sehen
wir nur Stückwerk, hier Totalitäten..... Wie aus dem unscheinbaren Keime eine
ganze Verbrecherlaufbahn entspringt, wie die erste Unterlassungssünde, die Scham darüber,
das Streben, es zu verbergen, eben so oft als der Kitzel der Lust das Individuum
weitcrtreibt, gäbe das keine Anschauung, Belehrungen, ja Erhebung? Da in der großen
Geschichte vertuscht man es, wie ans dem Kleinen das Ungeheuer sich ballt; hier ist
kein Grund dazu. Die Diplomaten und Historiker fehlen, die das Schlechte schön malen,
dem Albernen einen tiefen Sinn unterlegen, die Natur giebt sich, wie sie ist.--
Ü»d wenn mitten aus der Verworfenheit ein schöner menschlicher Zug wie ein Licht aus
bessern Welten hervorschießt, da kann dem Criminalisten eine Thräne in's Auge treten,
u»d er kann den Verbrecher lieben, den er verdammen muß .... Der Sprung aus
der Politik in die Criminälistik ist sür mich zur Rettung geworden; ans einer Welt der
Verwesung, über der der gleißende Schein immer mehr reißt, in eine Naturwelt, wo es
"°es chaotisch daliegt, unschön, meinethalben ekelhaft, aber es ist die grelle Naturwahr¬
heit .... Jetzt begreife ich die Völkerwanderung. Die Barbaren, welche die römische
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