Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.seine innersten Gedanken hinein analysiren und sich zugleich in die ganze materielle Aus¬ seine innersten Gedanken hinein analysiren und sich zugleich in die ganze materielle Aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94925"/> <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434" next="#ID_1436"> seine innersten Gedanken hinein analysiren und sich zugleich in die ganze materielle Aus¬<lb/> dehnung ausbreiten, die sie in der Geschichte umfaßt. Also eine Aufgabe, die in der<lb/> Form des Romans ungefähr dasselbe erreichen sollte, was Leopold Ranke in seinem<lb/> großen Geschichtswerke anstrebte. Der Verfasser zeichnet sich durch ernstes und tiefes<lb/> Nachdenken über die Religion, deren Kampf er darstellt, so wie durch sorgfältige Stu¬<lb/> dien über die politischen und socialen Verhältnisse der Zeit aus. Er hat sich außerdem<lb/> bemüht, eine seines Gegenstandes würdige Haltung aufzufinden. Allein es ist ihm nicht<lb/> gelungen, seine Ideen künstlerisch zu bewältigen. Der historische Roman soll sich von<lb/> einem Geschichtswerk zunächst doch dadurch unterscheiden, daß er uns durch Concentrirung<lb/> der Begebenheiten einerseits, durch individuelle Ausführung derselben andererseits den<lb/> Weg durch das historische Labyrinth bequemer und annehmlicher macht. Nun müssen<lb/> wir aber gestehen, daß Ranke's Geschichtswerk sich unendlich anmuthiger liest, und daß<lb/> man daraus doch eine unendlich größere Belehrung schöpft, als aus diesem Roman.<lb/> Die deutschen Schriftsteller haben sich überhaupt viel zu wenig Mühe gegeben, das<lb/> große Vorbild W. Scotts gehörig zu studiren. In v!ä morlslit^ z. B. sehen wir<lb/> einen ähnlichen Gegenstand dargestellt. Auf den gewöhnlichen Leser macht dieser Roman<lb/> den Eindruck einer leichten und dabei spannenden Unterhaltungslecture, während er doch<lb/> dem ernstem Leser so viele Aufschlüsse über die innere Natur der damaligen sittlichen<lb/> Contraste giebt, als es ein Geschichtsbuch nur immer im Stande sein würde. W. Scott<lb/> wußte sehr wohl, was er that, wenn er die Träger seiner Principien theils unter den<lb/> historisch bekannten, allgemein zugänglichen Personen suchte, theils ihnen einen so präg¬<lb/> nanten Ausdruck lieh, daß es nicht schwer wurde, sich zu orientiren. Herr v. Uechtritz<lb/> scheint mit eben so großer Sorgfalt das Gegentheil zu thun. Die beiden ersten Bände<lb/> bewegen sich ausschließlich im deutschen Privatleben, welches zwar mit sehr realistischer<lb/> Treue portraitirt ist, aber doch zu wenig bestimmte Physiognomie darbietet, um ein<lb/> wirkliches und lebendiges Interesse zu erregen. Von den großen historischen Gestalten<lb/> jener Zeit ist gar keine Rede. Herr v. Uechtritz hat nicht überlegt, daß im bürgerlichen<lb/> und Privatleben sich die historischen Gegensätze abschwächen und verwischen, und daß<lb/> damit nothwendig eine gcnrchafte Behandlung an Stelle des historischen Styls tritt.<lb/> Bei W. Scott bilden die Privatgeschäften nur den anmuthigen Vordergrund, der uns<lb/> die großen historischen Perspectiven vermittelt. Als einen zweiten Fehler des Romans<lb/> müssen wir den Mangel an Concentrationskraft bezeichnen. Die beiden ersten Bände<lb/> lösen sich in eine unendliche Reihe kleiner einzelner Begebenheiten auf, die sich zwar im<lb/> wirklichen Leben ähnlich wieder finden, die aber in der Kunst nothwendig aus einen<lb/> Brennpunkt berechnet werden müssen. Die beiden folgenden Bände enthalten wieder eine<lb/> ganz neue Geschichte, die mit jeuer ersten in keiner andern Weise zusammenhängt, als<lb/> daß der nämliche Held darin auftritt. Eine solche Ausdehnung ist für die Individua¬<lb/> lität des Kunstwerks im höchsten Grade nachtheilig. Endlich versteht es der Verfasser<lb/> nicht, in seinen Reflexionen Maß zu halten. Die religiösen Betrachtungen, die er seinen<lb/> Personen in den Mund legt, nehmen einen unverhältnißmäßig großen Raum ein, und sind<lb/> nicht blos daraus berechnet, die jedesmaligen Situationen und Stimmungen deutlich zu<lb/> machen, sondern sie sind um ihrer selbst willen da. Das darf im Roman nicht sein,<lb/> und wie viel Gemüth und Scharfsinn der Verfasser auch dabei aufwendet, das Alles<lb/> würde sich viel zweckmäßiger in einer Abhandlung über das Zeitalter der Reformation<lb/> ausnehmen. Man mag in unsrer Zeit so vornehm thun, als man will, der Zweck des</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0484]
seine innersten Gedanken hinein analysiren und sich zugleich in die ganze materielle Aus¬
dehnung ausbreiten, die sie in der Geschichte umfaßt. Also eine Aufgabe, die in der
Form des Romans ungefähr dasselbe erreichen sollte, was Leopold Ranke in seinem
großen Geschichtswerke anstrebte. Der Verfasser zeichnet sich durch ernstes und tiefes
Nachdenken über die Religion, deren Kampf er darstellt, so wie durch sorgfältige Stu¬
dien über die politischen und socialen Verhältnisse der Zeit aus. Er hat sich außerdem
bemüht, eine seines Gegenstandes würdige Haltung aufzufinden. Allein es ist ihm nicht
gelungen, seine Ideen künstlerisch zu bewältigen. Der historische Roman soll sich von
einem Geschichtswerk zunächst doch dadurch unterscheiden, daß er uns durch Concentrirung
der Begebenheiten einerseits, durch individuelle Ausführung derselben andererseits den
Weg durch das historische Labyrinth bequemer und annehmlicher macht. Nun müssen
wir aber gestehen, daß Ranke's Geschichtswerk sich unendlich anmuthiger liest, und daß
man daraus doch eine unendlich größere Belehrung schöpft, als aus diesem Roman.
Die deutschen Schriftsteller haben sich überhaupt viel zu wenig Mühe gegeben, das
große Vorbild W. Scotts gehörig zu studiren. In v!ä morlslit^ z. B. sehen wir
einen ähnlichen Gegenstand dargestellt. Auf den gewöhnlichen Leser macht dieser Roman
den Eindruck einer leichten und dabei spannenden Unterhaltungslecture, während er doch
dem ernstem Leser so viele Aufschlüsse über die innere Natur der damaligen sittlichen
Contraste giebt, als es ein Geschichtsbuch nur immer im Stande sein würde. W. Scott
wußte sehr wohl, was er that, wenn er die Träger seiner Principien theils unter den
historisch bekannten, allgemein zugänglichen Personen suchte, theils ihnen einen so präg¬
nanten Ausdruck lieh, daß es nicht schwer wurde, sich zu orientiren. Herr v. Uechtritz
scheint mit eben so großer Sorgfalt das Gegentheil zu thun. Die beiden ersten Bände
bewegen sich ausschließlich im deutschen Privatleben, welches zwar mit sehr realistischer
Treue portraitirt ist, aber doch zu wenig bestimmte Physiognomie darbietet, um ein
wirkliches und lebendiges Interesse zu erregen. Von den großen historischen Gestalten
jener Zeit ist gar keine Rede. Herr v. Uechtritz hat nicht überlegt, daß im bürgerlichen
und Privatleben sich die historischen Gegensätze abschwächen und verwischen, und daß
damit nothwendig eine gcnrchafte Behandlung an Stelle des historischen Styls tritt.
Bei W. Scott bilden die Privatgeschäften nur den anmuthigen Vordergrund, der uns
die großen historischen Perspectiven vermittelt. Als einen zweiten Fehler des Romans
müssen wir den Mangel an Concentrationskraft bezeichnen. Die beiden ersten Bände
lösen sich in eine unendliche Reihe kleiner einzelner Begebenheiten auf, die sich zwar im
wirklichen Leben ähnlich wieder finden, die aber in der Kunst nothwendig aus einen
Brennpunkt berechnet werden müssen. Die beiden folgenden Bände enthalten wieder eine
ganz neue Geschichte, die mit jeuer ersten in keiner andern Weise zusammenhängt, als
daß der nämliche Held darin auftritt. Eine solche Ausdehnung ist für die Individua¬
lität des Kunstwerks im höchsten Grade nachtheilig. Endlich versteht es der Verfasser
nicht, in seinen Reflexionen Maß zu halten. Die religiösen Betrachtungen, die er seinen
Personen in den Mund legt, nehmen einen unverhältnißmäßig großen Raum ein, und sind
nicht blos daraus berechnet, die jedesmaligen Situationen und Stimmungen deutlich zu
machen, sondern sie sind um ihrer selbst willen da. Das darf im Roman nicht sein,
und wie viel Gemüth und Scharfsinn der Verfasser auch dabei aufwendet, das Alles
würde sich viel zweckmäßiger in einer Abhandlung über das Zeitalter der Reformation
ausnehmen. Man mag in unsrer Zeit so vornehm thun, als man will, der Zweck des
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