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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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stellen; daraus wird dann ein jungdeutsches Charakterbild. Bei einer Figur
dagegen, wie dem Tempelherrn, ist Gefühl und Phantasie die eigentlich erzeugende
Kraft, was freilich den Verstand nicht ausschließt.

Lessing's Poesie zeigt sich allerdings mehr in seinen Charakteren, als in der
Komposition seiner Fabeln. Die beiden Bestandtheile der Handlung im Nathan,
der an's Ideelle, Didaktische streifende, und der novellistische, stehen in keinem
reckten Verhältniß zu einander. Beim Anschauen des Stücks ist uns eine Hypo¬
these ausgestoßen, die wir freilich nur schüchtern aufstellen. Die Tendenz des
Stücks geht auf die Abstteifung aller dnrch Religion und Sitte der menschliche"
Natur eingeflößte" Vorurtheile. Es scheint uus fast, als ob es Lessing im Sinn
gelegen hätte, mit seiner Emancipation noch weiter vorzuschreiten, als er es
wirklich durchgeführt hat. Die Liebe zwischen dem Templer und Reesa ist das
ganze Stück hindurch so energisch entwickelt, und die Natur der beiden Personen
so wenig geeignet, in eine schwächliche Resignation zu verfallen, daß man nicht
begreift, was der Dichter damit beabsichtigt, als er sie plötzlich in Bruder und
Schwester umwandelt, namentlich da dieser Umstand durch die sonstige Entwickelung
der Handlung in keiner Weise bedingt ist. Der Schluß hinterläßt offenbar einen
unangenehmen Eindruck, da eine sehr verständige und warme Liebe, für die wir
uns lebhaft interessiren, durch einen ganz sinnlosen Zufall unterbrochen wird.
Sollte es Lessing nicht wenigstens dunkel vorgeschwebt haben, daß man dieses
Hinderniß der Ehe am Ende auch in Frage stellen könne, eben so wie die
Verschiedenheit der Religionen, das Gelübde des Ordens u. s. w.? Wie dem
auch sei, wir lassen uus lieber den unbefriedigender Schluß gefallen, als wenn
der Dichter dnrch weitere Ausführung dieser Frage die Sache aus dem rein
sittlichen Gebiet in ein dunkleres herabgezogen hätte, in welchem man die Natur¬
wissenschaften zu Rathe ziehen muß.

Abgesehen von dieser sonderbaren Wendung des Schlusses, ist aber auch die
Begebenheit mit großer poetischer Weisheit versinnlicht. Das Auftreten neuer
Charaktere, die Aneinanderreihung der einzelnen Scenen ist nicht blos nach dem Zweck
der pragmatischen Verständlichkeit und des Zusammenhangs, sondern auch "ach dem
Bedürfniß der jedesmaligen Stimmung eingerichtet, und das ist bei einem poetischen
Gemälde die Hauptsache. Freilich gehört dazu, daß die Schauspieler die Intention
des Dichters auch wirklich auffassen, und das ist bei Lessing nicht leicht, denn die
Feinheit in der Anlage seiner Charaktere entzieht sich der Tölpelhaftigkeit der ge¬
wöhnlichen Theaterroutine. Es sind in dem Stück eigentlich nur zwei Figuren,
die nicht leicht vergriffen werden können, weil sie nur ans einem Holz geschnitzt
sind, der Patriarch und Daja; alle anderen erfordern etwas mehr Nachdenken,
als etwa ein Birch-Pfeiffer'sches Stück. Wir wollen das in den einzelnen Per¬
sonen nachzuweisen versuchen.

Die Hauptschwierigkeit in der Darstellung des Nathan beruht darin, daß


stellen; daraus wird dann ein jungdeutsches Charakterbild. Bei einer Figur
dagegen, wie dem Tempelherrn, ist Gefühl und Phantasie die eigentlich erzeugende
Kraft, was freilich den Verstand nicht ausschließt.

Lessing's Poesie zeigt sich allerdings mehr in seinen Charakteren, als in der
Komposition seiner Fabeln. Die beiden Bestandtheile der Handlung im Nathan,
der an's Ideelle, Didaktische streifende, und der novellistische, stehen in keinem
reckten Verhältniß zu einander. Beim Anschauen des Stücks ist uns eine Hypo¬
these ausgestoßen, die wir freilich nur schüchtern aufstellen. Die Tendenz des
Stücks geht auf die Abstteifung aller dnrch Religion und Sitte der menschliche»
Natur eingeflößte» Vorurtheile. Es scheint uus fast, als ob es Lessing im Sinn
gelegen hätte, mit seiner Emancipation noch weiter vorzuschreiten, als er es
wirklich durchgeführt hat. Die Liebe zwischen dem Templer und Reesa ist das
ganze Stück hindurch so energisch entwickelt, und die Natur der beiden Personen
so wenig geeignet, in eine schwächliche Resignation zu verfallen, daß man nicht
begreift, was der Dichter damit beabsichtigt, als er sie plötzlich in Bruder und
Schwester umwandelt, namentlich da dieser Umstand durch die sonstige Entwickelung
der Handlung in keiner Weise bedingt ist. Der Schluß hinterläßt offenbar einen
unangenehmen Eindruck, da eine sehr verständige und warme Liebe, für die wir
uns lebhaft interessiren, durch einen ganz sinnlosen Zufall unterbrochen wird.
Sollte es Lessing nicht wenigstens dunkel vorgeschwebt haben, daß man dieses
Hinderniß der Ehe am Ende auch in Frage stellen könne, eben so wie die
Verschiedenheit der Religionen, das Gelübde des Ordens u. s. w.? Wie dem
auch sei, wir lassen uus lieber den unbefriedigender Schluß gefallen, als wenn
der Dichter dnrch weitere Ausführung dieser Frage die Sache aus dem rein
sittlichen Gebiet in ein dunkleres herabgezogen hätte, in welchem man die Natur¬
wissenschaften zu Rathe ziehen muß.

Abgesehen von dieser sonderbaren Wendung des Schlusses, ist aber auch die
Begebenheit mit großer poetischer Weisheit versinnlicht. Das Auftreten neuer
Charaktere, die Aneinanderreihung der einzelnen Scenen ist nicht blos nach dem Zweck
der pragmatischen Verständlichkeit und des Zusammenhangs, sondern auch «ach dem
Bedürfniß der jedesmaligen Stimmung eingerichtet, und das ist bei einem poetischen
Gemälde die Hauptsache. Freilich gehört dazu, daß die Schauspieler die Intention
des Dichters auch wirklich auffassen, und das ist bei Lessing nicht leicht, denn die
Feinheit in der Anlage seiner Charaktere entzieht sich der Tölpelhaftigkeit der ge¬
wöhnlichen Theaterroutine. Es sind in dem Stück eigentlich nur zwei Figuren,
die nicht leicht vergriffen werden können, weil sie nur ans einem Holz geschnitzt
sind, der Patriarch und Daja; alle anderen erfordern etwas mehr Nachdenken,
als etwa ein Birch-Pfeiffer'sches Stück. Wir wollen das in den einzelnen Per¬
sonen nachzuweisen versuchen.

Die Hauptschwierigkeit in der Darstellung des Nathan beruht darin, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/476>, abgerufen am 22.12.2024.