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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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<Zro1Sö heißt, nicht ignoriren zu dürfen. Ich muß gestehen, daß mich eine falsche
Ahnung, als ob dieser Roi clss ürülss ein Stück mit politischem Hinter¬
gründe sein könnte, in das Theatre des Varivtes hineinzog. Meine Ahnung
war falsch, ich doppelt geprellt, und Alles, was sich über dieses Stück sagen
läßt -- o'sse bon xour ach xrovinciaux. Zu mehrerer Aufklärung ist es gut, zu
bemerken, daß in dem Verachtungstarise der Pariser suffisance der Provinzbe¬
wohner selbst hinter dem Etranger steht. Meine Strafe, war übrigens verdient,
denn erstens hätte ich wissen müssen, daß unsre Censur jetzt auch nicht die leiseste
Politische Anspielung duldet, und dann hätte mich schon der Titel aufklären sollen.
Wäre von Politik die Rede gewesen, dann hätte das Stück heißen müssen: un
ürüls ne rot. Es handelt sich aber blos um eine Bearbeitung des herrlichen
Charakters, den uns Diderot in seinem Dialoge Rameau's Neffe schildert.
Diese Satyre, welche den besten Satyren aller Zeiten und aller Literaturen zur
Seite gestellt werden kann, böte in der That einen interessanten Stoff für ein
Lustspiel; aber unsre Dichter wußten aus Rameau's Neffen nichts als einen apo-
^hphen Robert Macaire, ein Stück Mercadet, einen matten Wiederschein von
Don Cesar de Bazar zu machen. Sie hatten blos den Schauspieler Frvderic
Lemaitre vor Angen und die samische Ficelle. Ein Vagabund, der statt Genie
^os Cynismus und Unverschämtheit, statt Geist blos einen Vorrath von Calem-
^Urgs aufzuweisen hat, cela n'est, prennent M8 ärole^ und es thut wirklich
^ehe, einen so schönen, obgleich schwer zu behandelnden Stoff aus so leichtsinnige
Weise vergeudet zu sehen. Bezeichnend aber für die Bildungsstufe all' unsrer
Vaudevillefabrikanten ist der Umstand, daß sie selbst die Stoffe aus der französi¬
schen Literatur meist aus zweiter Hand entlehnen. Rameau's Neffe verdankt seine
Existenz aus der Bühne einem unlängst erschienenen Buche von Gerard de Nerval,
Ü! welchem darauf aufmerksam gemacht wird. Der französische Vaudeville-Dichter
sucht seine Stoffe auf der Gasse, nicht weil er dem Leben näher stehen will,
denn jeder Stoff kann zeitgemäß behandelt werden, sondern weil die Herren keine
uterarische Bildung haben, und schon eine große Concession gemacht zu haben
glauben, wenn sie orthographisch schreiben. Herr Elairville, einer der fruchtbarsten
Vaudevillisten Frankreichs, kann' sich auch dieses Zugeständniß nicht vorwerfen.
Um aber auf Rameau's Neffen zurückzukommen, das heißt auf den wirklichen,
denn der vom Theater lohnt kaum diese Mühe, erhellen aus dem Zeugnisse
eines Zeitgenossen, daß Diderot weit mehr Verdienst hat bei seiner Satire, als
wan auf den ersten Anblick glauben mochte. Der Dialog Diderot's scheint näm¬
lich blos abgeschrieben zu sein, man glaubt die Natur copirt zu sehen. Allein dem
war nicht so. Diderot hat einen Typus geschildert. Rameau's Neffe war blos die
Veranlassung, weil dieser geistsprudelnde Mensch, dieses verkannte Genie, das in Ar-
Wuth verkümmerte, sich zum Träger dieser Gattung leicht eignete. Der Roman im
Dialoge bleibt aber darum doch eine Schöpfung. Cazotte, ein Stück französischer Hu-


Grenzboten. III. 4 zz/

<Zro1Sö heißt, nicht ignoriren zu dürfen. Ich muß gestehen, daß mich eine falsche
Ahnung, als ob dieser Roi clss ürülss ein Stück mit politischem Hinter¬
gründe sein könnte, in das Theatre des Varivtes hineinzog. Meine Ahnung
war falsch, ich doppelt geprellt, und Alles, was sich über dieses Stück sagen
läßt — o'sse bon xour ach xrovinciaux. Zu mehrerer Aufklärung ist es gut, zu
bemerken, daß in dem Verachtungstarise der Pariser suffisance der Provinzbe¬
wohner selbst hinter dem Etranger steht. Meine Strafe, war übrigens verdient,
denn erstens hätte ich wissen müssen, daß unsre Censur jetzt auch nicht die leiseste
Politische Anspielung duldet, und dann hätte mich schon der Titel aufklären sollen.
Wäre von Politik die Rede gewesen, dann hätte das Stück heißen müssen: un
ürüls ne rot. Es handelt sich aber blos um eine Bearbeitung des herrlichen
Charakters, den uns Diderot in seinem Dialoge Rameau's Neffe schildert.
Diese Satyre, welche den besten Satyren aller Zeiten und aller Literaturen zur
Seite gestellt werden kann, böte in der That einen interessanten Stoff für ein
Lustspiel; aber unsre Dichter wußten aus Rameau's Neffen nichts als einen apo-
^hphen Robert Macaire, ein Stück Mercadet, einen matten Wiederschein von
Don Cesar de Bazar zu machen. Sie hatten blos den Schauspieler Frvderic
Lemaitre vor Angen und die samische Ficelle. Ein Vagabund, der statt Genie
^os Cynismus und Unverschämtheit, statt Geist blos einen Vorrath von Calem-
^Urgs aufzuweisen hat, cela n'est, prennent M8 ärole^ und es thut wirklich
^ehe, einen so schönen, obgleich schwer zu behandelnden Stoff aus so leichtsinnige
Weise vergeudet zu sehen. Bezeichnend aber für die Bildungsstufe all' unsrer
Vaudevillefabrikanten ist der Umstand, daß sie selbst die Stoffe aus der französi¬
schen Literatur meist aus zweiter Hand entlehnen. Rameau's Neffe verdankt seine
Existenz aus der Bühne einem unlängst erschienenen Buche von Gerard de Nerval,
Ü! welchem darauf aufmerksam gemacht wird. Der französische Vaudeville-Dichter
sucht seine Stoffe auf der Gasse, nicht weil er dem Leben näher stehen will,
denn jeder Stoff kann zeitgemäß behandelt werden, sondern weil die Herren keine
uterarische Bildung haben, und schon eine große Concession gemacht zu haben
glauben, wenn sie orthographisch schreiben. Herr Elairville, einer der fruchtbarsten
Vaudevillisten Frankreichs, kann' sich auch dieses Zugeständniß nicht vorwerfen.
Um aber auf Rameau's Neffen zurückzukommen, das heißt auf den wirklichen,
denn der vom Theater lohnt kaum diese Mühe, erhellen aus dem Zeugnisse
eines Zeitgenossen, daß Diderot weit mehr Verdienst hat bei seiner Satire, als
wan auf den ersten Anblick glauben mochte. Der Dialog Diderot's scheint näm¬
lich blos abgeschrieben zu sein, man glaubt die Natur copirt zu sehen. Allein dem
war nicht so. Diderot hat einen Typus geschildert. Rameau's Neffe war blos die
Veranlassung, weil dieser geistsprudelnde Mensch, dieses verkannte Genie, das in Ar-
Wuth verkümmerte, sich zum Träger dieser Gattung leicht eignete. Der Roman im
Dialoge bleibt aber darum doch eine Schöpfung. Cazotte, ein Stück französischer Hu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/437>, abgerufen am 22.12.2024.