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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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der Seele und im Gewissen der dargestellten Charaktere, und zwar nicht, wie es
im Mittelalter der-Fall gewesen war, durch einzelne wunderbare Erleuchtungen,
sondern in einer regelmäßigen, dem Gefühl vollkommen verständlichen Continuität.

Nun ist es allerdings möglich, das Princip des Gewissens eben so zu über¬
treiben, wie jedes andere richtige Princip. Bekanntlich ist in der neuern deut¬
schen Philosophie die Bedeutung des Gewissens so überschätzt wordeu, daß man
nicht blos die ganze moralische, sondern auch die ganze intellccttrelle Welt daraus
herleiten wollte. So ist es auch Shakespeare z. B. im Hamlet ergangen. Der
Gedanke, daß das Gewissen aus uns Feige macht, und der angeborenen Farbe
der Entschlossenheit des Gedankens Blässe ankränkelt, ist allerdings auch der Ge¬
genstand dieses Drama's, den der Dichter objectiv darstellt, über den er sich
also gewissermaßen erhebt. Aber diese Idee ist anch in dem Geist des Dichters
selbst und macht ihn befangen, und während wir die Anlage der Handlung, den
Conflict zwischen den verschiedenen Aeußerungen des Gewissens vollkommen ver¬
stehen, läßt uus der Dichter bei der weitern Entwickelung im Stich. Wir bewegen
uns in einer räthselhaften Dunkelheit; wir können uns wol über die Motive
noch Ahnungen und Muthmaßungen bilden, aber wir sehen sie nicht mehr. Diesen
Umstand haben die modernen Kritiker, welche den Hamlet vollständig zu begreifen
glaubten, aus deu Augen gelassen, während das gewöhnliche Publicum, das sich
für das Drama enthusiasmirt, darin nichts weiter sieht, als eine Reihe von Effect¬
scenen, an denen ein begabter Schauspieler seine Virtuosität zeigen kann.

Wenn Shakespeare im Hamlet sein eigenes Princip übertrieben hat, so ist es
seinen Auslegern auf eine ganz ähnliche Weise ergangen. Die jungen Dichter
aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts staunten in Shakespeare die
Freiheit, die Regellosigkeit, in gewissem Sinn die Unbegreiflichkeit an, wie man
in früheren Zeiten des Christenthums Gott nur dann anbeten zu können meinte,
wenn mau ihn als den aeus adsconclitus zu scheuen hatte. In neuerer Zeit
ist man zu der ganz richtigen Erkenntniß gekommen, das höchste Geheimniß sei
das offenbare. Man hat in der modernen Speculation den lieben Gott bis in's
kleinste Detail begriffen, und eben so hat man bei Kunstwerken nachgewiesen, daß
Alles so sein mußte, wie es ist. Man hat aus dieser löblichen Absicht den Dich¬
ter" wie dem lieben Gott Gewalt angethan, und zwar ist das Ulrici eben so wider¬
fahren, wie Gervinus. In der richtigen Erkenntniß von der weisen Fügung, die
der Dichter in dem Verhältniß zwischen dem Thun und Leiden seiner Helden
walten läßt, hat er mitunter bei dem Aufsuchen einer geheimen Schuld, die dem
Schicksal entsprechen müsse, ein so scharfes Mikroskop angewendet, daß er Dinge
gesehen hat, die gar nicht da waren. Namentlich leicht skizzirten Figuren, die
der Combination freien Spielraum gaben, z. B. der armen Ophelia, Cor-
delia:c., ist das Schlimmste nachgesagt worden. Den richtigen Grundsatz, daß
bei einem Kunstwerk von gutem Styl das Eintreten des Schicksals der Natur-


der Seele und im Gewissen der dargestellten Charaktere, und zwar nicht, wie es
im Mittelalter der-Fall gewesen war, durch einzelne wunderbare Erleuchtungen,
sondern in einer regelmäßigen, dem Gefühl vollkommen verständlichen Continuität.

Nun ist es allerdings möglich, das Princip des Gewissens eben so zu über¬
treiben, wie jedes andere richtige Princip. Bekanntlich ist in der neuern deut¬
schen Philosophie die Bedeutung des Gewissens so überschätzt wordeu, daß man
nicht blos die ganze moralische, sondern auch die ganze intellccttrelle Welt daraus
herleiten wollte. So ist es auch Shakespeare z. B. im Hamlet ergangen. Der
Gedanke, daß das Gewissen aus uns Feige macht, und der angeborenen Farbe
der Entschlossenheit des Gedankens Blässe ankränkelt, ist allerdings auch der Ge¬
genstand dieses Drama's, den der Dichter objectiv darstellt, über den er sich
also gewissermaßen erhebt. Aber diese Idee ist anch in dem Geist des Dichters
selbst und macht ihn befangen, und während wir die Anlage der Handlung, den
Conflict zwischen den verschiedenen Aeußerungen des Gewissens vollkommen ver¬
stehen, läßt uus der Dichter bei der weitern Entwickelung im Stich. Wir bewegen
uns in einer räthselhaften Dunkelheit; wir können uns wol über die Motive
noch Ahnungen und Muthmaßungen bilden, aber wir sehen sie nicht mehr. Diesen
Umstand haben die modernen Kritiker, welche den Hamlet vollständig zu begreifen
glaubten, aus deu Augen gelassen, während das gewöhnliche Publicum, das sich
für das Drama enthusiasmirt, darin nichts weiter sieht, als eine Reihe von Effect¬
scenen, an denen ein begabter Schauspieler seine Virtuosität zeigen kann.

Wenn Shakespeare im Hamlet sein eigenes Princip übertrieben hat, so ist es
seinen Auslegern auf eine ganz ähnliche Weise ergangen. Die jungen Dichter
aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts staunten in Shakespeare die
Freiheit, die Regellosigkeit, in gewissem Sinn die Unbegreiflichkeit an, wie man
in früheren Zeiten des Christenthums Gott nur dann anbeten zu können meinte,
wenn mau ihn als den aeus adsconclitus zu scheuen hatte. In neuerer Zeit
ist man zu der ganz richtigen Erkenntniß gekommen, das höchste Geheimniß sei
das offenbare. Man hat in der modernen Speculation den lieben Gott bis in's
kleinste Detail begriffen, und eben so hat man bei Kunstwerken nachgewiesen, daß
Alles so sein mußte, wie es ist. Man hat aus dieser löblichen Absicht den Dich¬
ter» wie dem lieben Gott Gewalt angethan, und zwar ist das Ulrici eben so wider¬
fahren, wie Gervinus. In der richtigen Erkenntniß von der weisen Fügung, die
der Dichter in dem Verhältniß zwischen dem Thun und Leiden seiner Helden
walten läßt, hat er mitunter bei dem Aufsuchen einer geheimen Schuld, die dem
Schicksal entsprechen müsse, ein so scharfes Mikroskop angewendet, daß er Dinge
gesehen hat, die gar nicht da waren. Namentlich leicht skizzirten Figuren, die
der Combination freien Spielraum gaben, z. B. der armen Ophelia, Cor-
delia:c., ist das Schlimmste nachgesagt worden. Den richtigen Grundsatz, daß
bei einem Kunstwerk von gutem Styl das Eintreten des Schicksals der Natur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/420>, abgerufen am 22.12.2024.